Archiv

Broschüren helfen Eltern mit Grundinformationen - Alle Fotos: Martin Angelstein

Jörg Richstein (Gießen) spricht über die Betroffenheit der Eltern und die Krankheit (siehe oben als AUDIO-Originalton)

11.10.06 - Rotenburg/F.

"Fragiles X-Syndrom" - noch viele Rätsel um eine genetische Disposition

ungültige ID

Eltern und Ärzte haben am vergangenen Wochenende in Rotenburg an der Fulda eine intensivere Forschung nach dem so genannten "Fragilen X-Syndrom" gefordert. Es handelt sich dabei um eine genetische Disposition, genauer gesagt um einen Defekt des X-Chromosoms im Erbgut, durch den ein Wissensprotein nicht gebildet wird. Dadurch kommt es zu Entwicklungsverzögerungen bei Kindern wie spätes Sprechen und Laufen sowie Muskelschwächung. Bedauert wurde in Rotenburg, dass sich die Wissenschaft und Forschung in Deutschland viel zu wenig mit dieser Genkrankheit beschäftigt: möglicherweise, weil es daran "zu wenig zu verdienen gibt".

Oftmals werde diese Krankheit aber gar nicht oder viel zu spät erkannt und diagnostiziert, hieß es auf der Jahrestagung der Interessengemeinschaft Fragiles X-Syndrom ( http://www.frax.de ). In Deutschland gibt es schätzungsweise bis zu 25.000 Betroffene, aber nur wenige hundert sind bisher in dieser Interessengemeinschaft organisiert. Viele Kinderärzte würden davon auch gar nichts ahnen, obwohl statistisch gesehen jede 130. Frau eine potentielle Trägerin dieses Defektes ist und das veränderte Chromosom über mehrere Generationen vererbt werden kann, bevor es bei einem "Ausbruch" (Vollmutation) kommt und entdeckt wird.

Unter den Fachleuten in Rotenburg war auch Prof. Randi J. Hagermann aus Sacramento / USA, die von neuesten Forschungen und Erfahrungen berichtete. Sie gilt als weltweit anerkannte Wissenschaftlern zu dieser Erbkrankheit.

Weil das Thema äußerst komplex ist, veröffentlichen wir nachfolgend einige der Fachbeiträge im Wortlaut (Kurzfassungen), damit sich betroffene Eltern selbst oder auch Fachleute und Ärzte ein Bild machen können. Der Redaktion ist durchaus bewusst, dass der eine oder andere mit den fachspezifischen Ausdrücken und Beschreibungen "Probleme" haben könnte.

Prof. Peter Steinbach vom Institut für Humangenetik der Universität Ulm meinte:

"Das fragile-X Syndrom wird in der Regel verursacht durch Verlängerung einer Trinukleotid-Wiederholungssequenz in dem X-chromosomalen Gen FMR1. Die Genveränderung führt zum Verlust des FMR1-Proteins (FMRP) und zum Ausfall der Genfunktion, die für eine normale intellektuelle Entwicklung notwendig ist. Die zum Funktionsverlust führenden Mechanismen, die bei der Weitergabe eines veränderten FMR1-Gens in Familien ablaufen können, sind schon gut aufgeklärt und bilden die solide Grundlage der fachlich qualifizierten Humangenetischen Beratung in Verbindung mit genetischen Tests, deren Qualität und Zuverlässigkeit durch regelmäßige Laborkontrollen sichergestellt sind.

Viele neurologische und psychiatrische Probleme der Patienten beruhen höchstwahrscheinlich auf einer fehlgesteuerten und zu starken Wirkung bestimmter neuronaler Signalempfänger (metabotrope Glutamatrezeptoren, mGluR). Diese befinden sich an Kontaktstellen zwischen Nervenzellen (Synapsen). Wenn der Rezeptor Signale empfängt, steigt die Produktion zahlreicher neuronaler Proteine, wobei FMRP hier als regulatorischer Gegenspieler wirkt. FMRP verhindert eine ungebremmste, zu hohe Proteinsynthese, die zur Zerstörung der Synapse führen kann. Die „mGluR-Theorie“ wird unterstützt durch die aktuellen an Tiermodellen erhobenen Forschungsresultate und zeigt insbesondere neue und vielversprechende Wege für eine Pharmakotherapie bei fra(X)-Patienten auf.

Zu vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden referierte Prof. Eberhard Schwinger vom Universitäts-klinikum Schleswig-Holstein:

"Vor der Einführung molekulargenetischer Diagnosemöglichkeiten beim Marker-X-Syndrom erfolgte die Diagnose nach spezieller Behandlung der Chromosomenkulturen zytogenetisch. In Fällen von Marker-X-Syndrom zeigte sich ein Bruch am langen Arm des X-Chromosoms in der Region Xq27/28. Die Diagnostik war relativ sicher bei männlichen Betroffenen, hochgradig unsicher bei weiblichen Überträgerinnen und vollkommen unmöglich bei dem Vorliegen einer Prämutation.

Insofern war die Einführung der molekulargenetischen Diagnostik ein sehr wichtiger Fortschritt. Sehr wichtig ist auch der Proteinnachweis mittels eines Antikörpertests. Das FMR1-Protein kann mittels eines spezifischen Antikörpers am Blutausstrich nachgewiesen werden. Bei voller Ausprägung des Marker-X-Syndroms ist ein Protein nicht nachweisbar. In sehr seltenen Fällen ist die Sequenzierung des FMR1-Gens bei Verdacht auf eine Punktmutation in diesem Gen notwendig. Zytogenetische Untersuchungen konnten und molekulargenetische Untersuchungen können sowohl an Blut, an Chorionzotten aus dem ersten Trimester (CVS I), aus Amnionzellen und aus Chorionzotten zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden.

In den letzten Jahren hat in der Bundesrepublik Deutschland eine heftige Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik, die in einigen europäischen Ländern und vielen außereuropäischen Ländern durchgeführt wird, stattgefunden. Bei der Präimplantationsdiagnostik kann man unterscheiden eine Diagnostik an Polkörpern (PKD), eine Untersuchung embryonaler Zellen, die sog. Blastomerendiagnostik (BD), sowie eine morphologische Beurteilung von Eizellen im Vorkernstadium und frühesten Embryonen. Letztere spielt für die Diagnostik beim Marker-X-Syndrom keine Rolle.

Entsprechend dem Embryonenschutzgesetz in Deutschland ist nur eine Polkörperdiagnostik möglich. Diese Untersuchung ist durch einen sehr engen zeitlichen Rahmen und durch technische Schwierigkeiten gekennzeichnet. Die PKD wird an wenigen Zentren in Deutschland für einzelne genetisch bedingte Erkrankungen, wie z. B. die Myotone Dystrophie, die Cystische Fibrose, die Spinale Muskeldystrophie und das Marker-X Syndrom durchgeführt. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass eine solche Diagnostik am besten auf indirektem Weg erfolgt, d. h., dass das Gen flankierende polymorphe Marker benutzt werden, die es erlauben, die beiden betreffenden Chromosomen zu unterscheiden. Bevor es zu einer Diagnostik kommen kann, sind daher umfangreiche Familienuntersuchungen unter Einschluss der Eltern und insbesondere unter Einschluss lebender betroffener und nicht betroffener Geschwister notwendig.

Wenn diese Untersuchungen abgeschlossen sind, sind die Voraussetzungen geschaffen, festzustellen, ob das X-Chromosom mit der Genveränderung im Polkörper oder in der Eizelle lokalisiert ist. Im letzteren Fall muss die Eizelle verworfen werden. Diese Diagnostik muss innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen sein, da dann die befruchtete Eizelle zum Embryo wird und dem Embryonenschutzgesetz unterliegt. Die Nachteile der Polkörperdiagnostik gegenüber der Blastomerendiagnostik sind schwerwiegend. Die Polkörper sind schlechter untersuchbar verglichen mit Plastozysten. Nur mütterliche genetische Veränderungen können indirekt diagnostiziert werden und Fehlermöglichkeiten durch Crossing-over können auftreten, wenn nur der 1. Polkörper untersucht werden kann.

Ganz besonders nachteilig ist aber, dass Eizellen verworfen werden müssen, die, wenn ein X-chromosomentragendes Spermium befruchtet hätte, zu einem gar nicht oder wenig betroffenen Mädchen führt. Bei dieser komplizierten Sachlage kommt der Information durch die Selbsthilfegruppe eine große Bedeutung zu, da davon ausgegangen werden muss, dass Ärzte nicht über die gesamten, diesen Komplex betreffende Informationen verfügen.

Über die Entwicklung eines Computerprogramms zur Klassifikation von syndromalen Krankheitsbildern auf der Basis von 2D-Fotografien referierte PD Dr. Dagmar Wieczorek von der Universität Essen. Die klinische Untersuchung von Patienten mit Entwicklungsverzögerungen oder mentaler Retardierung stellt eine Herausforderung für Ärzte dar. In vielen Fällen sind die fazialen Dysmorphien (Auffälligkeiten des Gesichts) diagnoseweisend. Bisher sind die Informationen der Datenbanken in bezug auf die fazialen Dysmorphien limitiert.

Es wurden computer-basierte Analysen von 2D- und 3D-Fotografien von Patientengesichtern entwickelt. Bisher ist jedoch noch unklar, wie gut größere Datenmengen ausgewertet werden können. Wir haben daher 2D-Fotografien von Patienten mit 10 verschiedenen syndromalen Krankheitsbildern analysiert (Fragiles-X-Syndrom, Cornelia de Lange-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, Mukopolysaccharidose Typ III, Cri-du-chat-Syndrom, Smith-Lemli-Opitz-Syndrom, Sotos-Syndrom, Mikrodeletion 22q11.2, Noonan-Syndrom).

Wir konnten mit unserem Computerprogramm eine korrekte Klassifikation in mehr als 75% innerhalb der zehn Krankheitsbilder zeigen. Damit hat die Klassifikationsrate bei Verdopplung von fünf auf zehn Krankheitsbilder nicht abgenommen. Der paarweise Vergleich zwischen zwei Syndromen ergab eine korrekte Klassifikationsrate von 80-99%. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass die Computerentscheidungen mit den klinischen Beobachtungen in vielen Fällen übereinstimmten.Unsere Ergebnisse zeigen, dass die computerbasierte Fotoanalyse hilfreich ist als Ergänzung zu den bisher existierenden Datenbanken, die zur Diagnose von syndromalen Krankheitsbildern herangezogen werden. Die Standard-Foto-Ausrüstung, die für unsere Analysen verwendet wurde, macht die breite Anwendung in der Zukunft möglich.

Über Untersuchungen zu FXTAS - Tremor-Ataxie-Syndrom bei FraX- berichtete Dr. Christoph Kamm von der Universitätsklinikum Tübingen:

"Das Fragile X – Tremor – Ataxie – Syndrom ist ein erst in den letzten Jahren erkanntes neurologisches Krankheitsbild, das bei Trägern der FMR1-Prämutation festgestellt wurde. Im Gegensatz zum Fragile X – Syndrom, das durch eine Vollmutation im FMR1-Gen (d.h. Verlängerung auf mindestens 200 repeats) und eine hierdurch bedingte neurologische Entwicklungsstörung verursacht wird, äußern sich Symptome von FXTAS erst im höheren Lebensalter, in der Regel frühestens ab dem 50. Lebensjahr. Am häufigsten finden sich ein Zittern (Tremor) der Hände, insbesondere bei Zielbewegungen, z.T. auch ein Kopftremor, eine Gangunsicherheit (Ataxie) und eine Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit (Demenz), seltener auch Zeichen eines Parkinson-Syndroms oder eine Schädigung peripherer Nerven (Polyneuropathie).

Kernspintomographisch finden sich typischerweise eine Abnahme der Groß- und Kleinhirnsubstanz und Signalveränderungen der weißen Substanz (Marklager), insbesondere der mittleren Kleinhirnstiele. Da es bislang keine spezifische ursächliche Behandlung von FXTAS gibt, orientiert sich die Therapie an den individuell überwiegenden Symptomen. Bei überwiegendem Tremor sind dies Medikamente wie z.B. beta-Blocker (z.B. Propanolol), Primidon oder Clonazepam. Diese können jedoch die Gangunsicherheit (Ataxie), die generell medikamentös schwierig zu behandeln ist, verschlechtern. Bei Symptomen eines Parkinson-Syndroms sollte ein Behandlungsversuch mit L-Dopa, evtl. auch Amantadin, erfolgen. Emotionale Auffälligkeiten wie Depression oder Angstgefühle können mit selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRIs), z.B. Fluoxetin oder Sertralin, eine ausgeprägte Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit (Demenz) hingegen mit Acetylcholinesterease-Inhibitoren wie z.B. Donepezil behandelt werden.

Da die FMR1-Prämutation in der Allgemein-bevölkerung relativ häufig ist (1/813 Männern und 1/259 Frauen) und einige der Symptome von FXTAS auch bei anderen neurologischen Erkrankungen, insbesondere bei der Multi-System-Atrophie (MSA), vorkommen, haben wir 507 Patienten mit klinisch wahrscheinlicher oder pathologisch gesicherter MSA auf die FMR1-Prämutation untersucht. Hierbei fanden wir die Prämutation bei insgesamt nur vier Patienten (0.94%), allerdings bei einem relativ hohen Prozentsatz, nämlich drei von 76 Patienten (3.95%), innerhalb der MSA-C-Untergruppe. Im Gegensatz zu anderen MSA-Patienten hatten die FXTAS-Patienten einen relativ günstigen Verlauf der Erkrankung (Gehfähigkeit nach über 10 Jahren noch erhalten) und als auffälliges Symptom ein z.T. atypisches Zittern (Tremor). Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Symptome von FXTAS prinzipiell von denjenigen bei MSA unterscheiden, dass aber ein nur relativ langsam fortschreitender Verlauf der Erkrankung und überwiegender Tremor nützliche Warnsignale sind, die auf FXTAS hinweisen können." +++



Prof. Hagermann aus Sacramento/USA - eine gefragte Wissenschaftlerin in Rotenburg




Simultan-Übersetzungen waren Standard...

Viele Informationen sind nötig ....


...und Jörg Richstein hilft gerne weiter

In der Rotenburger BKK-Akademie fühlte sich die Interessengemeinschaft gut aufgenommen

Über Osthessen News

Kontakt
Impressum

Apps

Osthessen News IOS
Osthessen News Android
Osthessen Blitzer IOS
Osthessen Blitzer Android

Mediadaten

Werbung
IVW Daten


Service

Blitzer / Verkehrsmeldungen Stellenangebote
Gastro
Mittagstisch
Veranstaltungskalender
Wetter Vorhersage

Social Media

Facebook
Twitter
Instagram

Nachrichten aus

Fulda
Hersfeld Rotenburg
Main Kinzig
Vogelsberg
Rhön