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Alle sind glücklich, alle sind froh: Das Ensemble besingt die trügerische Sicherheit im Unterwasserreich Vineta. - Foto: Hendrik Nix

HANAU „Gute Welle“ mit Tiefgang

Beeindruckende Festspielpremiere spiegelt die Abgründe der Gegenwart

16.05.17 -

Mit einer beeindruckenden Interpretation des Grimm’schen Märchens „Vom Fischer und seiner Frau“ sind in Hanau, der Geburtsstadt von Jacob und Wilhelm Grimm, die 33. Brüder-Grimm-Festspiele gestartet. Oberbürgermeister Claus Kaminsky und Intendant Frank Lorenz Engel konnten zahlreiche Gäste, darunter Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier - der einen deutlich erhöhten Landeszuschuss mitgebracht hatte- und Wirtschaftsminister Tarek al Wazir begrüßen. Sie alle erlebten ein mitreißendes Musical um Machtstreben, Eitelkeit, Freiheitswillen und trügerische Glückseligkeit.

Dramatisches Auftauchen in einer neuen Welt: Der Butt Stig (Janko Danailow) wird vom ...

In zwei Welten spielt sich bei der eigens für die Hanauer Festspiele von Autor und Liedtexter Kevin Schroeder meisterhaft geschriebenen Märchen-Interpretation der Kampf zwischen Gier und Bescheidenheit, zwischen Machtstreben und Zufriedenheit ab: Unter Wasser in der versunkenen Stadt „Vineta“ und auf der Erde, eben „über dem Meer“. Dabei unterscheiden sich die Welten nicht nur in dem sie beherrschenden Element, sondern auch in ihrer Beschaffenheit. Die Erde wird von echten Menschen bewohnt, mit all ihren Gefühlen und Abgründen, mit Neid, Missgunst, Liebe und dem Willen nach immer mehr. Im glitzernden Unterwasser-Reich Vineta hingegen mit seinen schillernden Perlen und den leuchtenden Fassaden herrscht Sicherheit und die (verordnete) Glückseligkeit. „Alle sind glücklich, allen geht’s gut“ singt das Ensemble in „Komm doch mal runter“, einem Song, der Ohrwurmqualität hat.

Niemand möchte aus dieser Biedermeier-Idylle ausbrechen. Niemand, außer dem Butt, der von königlichem Geblüt ist: Als Sohn des Königs von Vineta, hat es gewagt, verbotenerweise „über den Graben zu schwimmen“. Und ist prompt dem Fischer ins Netz gegangen, der nun mit den überzogenen Forderungen seiner Frau den Butt ein ums andere Mal zwingt, Wunder zu vollbringen. Trotz dieser Zumutungen ist der Prinz in diese zwar fehlerhafte aber dennoch so vielfältige und interessante Menschenwelt zu wechseln, aufzubrechen, zu neuen Ufern zu streben, das Ungewisse zu wagen. Janko Danailow als Butt gelingt es dabei eindringlich, den Zwiespalt zwischen Gehorsam und Freiheitswillen, zwischen Glauben und Zweifeln, fühlbar zu machen. Sein Wunsch, gegen den Strom zu schwimmen und Grenzen zu überwinden, zeigt den Willen zum Ausbruch aber auch das Gefangensein in Bequemlichkeit und Angst auf dramatische Weise.

Den Schlüssel zur Wandlung des Butts -der wie alle Vinetaer eigentlich ein verwunschener Mensch ist - hält Meeresgöttin Ran (Sophia Euskirchen knüpft hier nahtlos an ihren großen Erfolg im letzten Jahr als Elfe in „Rapunzel“ an) in den Händen: Es gibt kein gleichzeitiges Leben in den zwei Welten. Man kann nicht permanente Sicherheit und Ordnung haben und gleichzeitig in einer lebendigen Welt existieren, in der es jeden Tag Neues zu entdecken gibt und jeden Tag Neues passiert.

An dieser Stelle wird die Hanauer Interpretation des Grimm’schen Märchens endgültig zur Parabel auf die heutige Moderne. Dem Wunsch nach Veränderung und Verbesserung steht das Einkuscheln in einer privaten heilen Welt gegenüber, in der man sich zum Abschied „Gute Welle“ wünscht. Einer Welt, die vermeintlich sicher, letztlich aber  eine Welt der verordneten Zufriedenheit und damit auch der Unmündigkeit ist. Der Zwiespalt zwischen dem erträumten Biedermeier und den Realitäten des Lebens ist wohl nirgendwo so ausgeprägt wie in deutschen Landen. Und insofern ist die Hanauer Interpretation des Grimm’schen Märchens auch eine Parabel auf die Abgründe der Gegenwart.

Der Ausbruch aus der Glitzer-Welt ist nicht umsonst zu haben. Niemand kann Fisch und Fleisch zugleich sein. „Einer muss sterben“ erklärt die Meeresgöttin und meint damit den Fisch im Prinzen, meint, dass man das alte Leben völlig hinter sich lassen muss, wenn man in die Freiheit strebt. Und sie fordert zudem Haltung, Rückgrat ein, in dieser unfertigen, aber zutiefst menschlichen Welt. Eine Forderung, die direkt in die heutige Zeit führt. „Wofür würdest du sterben“, singt Sophia Euskirchen als Königin Ran. Eine der eindrücklichsten Szenen, die direkt unter die Haut geht.

Man kann nicht Fisch und Fleisch zugleich sein: Meeresgöttin Ran (Sophia Euskirchen) ...

Gänsehaut und viel Nachdenklichkeit erzeugt auch das Klagelied der Fischersfrau über ihre verlorene Liebe. Spätestens hier zeigt sich, dass Anna Montanaro, Hauptdarstellerin im diesjährigen Musical, zurecht als eine der wenigen deutschen Künstlerinnen schon auf dem Broadway auftreten durfte. „Wo ist der Mann, der er mal war“ fragt sie sich in einem wunderschönen Lied (Komponist Marc Schubring hat mit diesem Musical wieder einmal ein Meisterstück abgeliefert). Die Klage über eine Liebe, die sich im Alltag abgenutzt hat, wird später vom Fischer aufgegriffen und zurückgegeben. Zur Liebe gehören halt immer zwei, und die Verantwortung für das Glück trägt auch nicht einer allein.

Ron Holzschuh, der schon in der TV-Serie „Verbotene Liebe“ glänzte, liefert auf der Hanauer Märchenbühne als genügsamer und zugleich getriebener Mensch eine starke Interpretaion der Fischer-Rolle ab. Holzschuh und eine resolut aufspielende Anna Montanaro, die die Fischersfrau ebenso eitel wie bemitleidenswert gibt, bilden ein kongeniales Paar. Zusammen mit Janko Danailow ergibt sich hier eine Hauptrollen-Kombination, die sicher und stets den Spannungsbogen haltend über die immerhin gut zweieinhalbstündige Aufführung (plus Pause) trägt. Bei aller modernen Interpretation bleiben die Brüder Grimm Festspiele Hanau natürlich einer Märchen-Tradition treu: Am Ende wird alles gut – jedenfalls für die Guten. Und so landet die Fischerin nach ihrem Absturz vom Kaiser- und Papstthron wieder arm – aber glücklich und frisch verliebt mit ihrem Fischer im alten, aber nunmehr geschätzten Leben. Und diesmal gesellt sich der frühere Butt dazu, der in einer schmerzhaften Prozedur den Sprung in das Leben und die Freiheit geschafft hat.

Neben herausragenden Einzelleistungen auch in den Nebenrollen (Anna Thorén etwa als missgünstige Freundin der Fischerin dürfte dank ihrer lebensechten Darstellung manch Erinnerung bei den Zuschauerinnen geweckt haben) beeindruckt vor allem die Ensemble-Leistung. Gespielt wird schnell wechselnd einerseits in rasanten Szenen, in denen auch schon mal revolutionär anmutende Fahnen geschwungen werden und dramatischer Chorgesang das Zeltdach des Amphitheaters zum Beben bringt. Da erinnert man sich bisweilen an das Revolutionsstück „Les Miserables“. Dem gegenüber stehen leise, unter die Haut gehenden Szenen einzelner Protagonisten, in denen das Ensemble oftmals dennoch auf der Bühne verbleibt und in eine fast schmerzhaft zu spürende Starre verfällt. Das ist nicht nur eine schauspielerische, sondern auch eine körperliche Leistung neben der ebenso fordernden schnellen und rhythmisch ausgefeilten Choreographie – wieder einmal eine ebenso kreative wie gelungene Umsetzung von Bart De Clerq der schon im letzten Jahr mit der Choreographie von „Rapunzel“ begeisterte.

Komplettiert wird das Ganze durch eine ebenso einfühlsam wie beherzt aufspielende Live-Band unter der musikalischen Leitung von Marek Syperek, die -eine tolle Idee- kein klassisches Schlagzeug hat sondern sich vom Ensemble auf der Bühne mit perfekt geschlagenen Cajóns unterstützen lässt. Zeitweise zurückgenommen mit viel Platz für die Fantasie und bisweilen überbordend: Kostüme und Maske von Ulla Röhrs und Wiebe Quenzel – beide für ihre Arbeiten im letzten Jahr mit dem Deutschen Musical-Theater-Preis ausgezeichnet – sind erneut preiswürdig.

Stehende Ovationen, die kaum enden wollten, belohnten das Ensemble, das von Regisseur Holger Hauer abgestimmt und intelligent eingesetzt und offenbar mit Geschick und Können zu diesem großartigen Musicalabend geführt worden war. Eins steht jetzt schon fest: „Vom Fischer und seiner Frau“ dürfte künstlerisch zu den besonders hell leuchtenden Sternen am nunmehr seit 33 Jahren bestehenden Märchenhimmel der Brüder-Grimm-Stadt Hanau gehören. +++


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