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BAD HERSFELD Festspiele in der Stiftsruine

Jutta Hamberger zur Musical-Premiere: Goethe – Wild at Heart

05.07.21 - Wenn Sie beim Stichwort "Goethe" an quälende Deutschstunden denken, kann ich Sie beruhigen: Nichts könnte ferner von gähnend-langweiliger Klassikvermittlung sein als das Musical, das in Bad Hersfeld die Bühne rockt – und gestern das Premieren-Publikum begeisterte.

Goethe in sexy

Premiere in Bad Hersfeld: Goethe – Wild at Heart. Fotos: Carina Jirsch

Der Hersfelder Goethe ist jung. Er ist aufsässig. Er ist sexy. Er hat mehr mit Robbie Williams als mit einem Dichterfürsten gemein. Mit seinem Vater hat er Dauer-Zoff. Dafür hat man ein gewisses Verständnis, denn der Berufswunsch "Dichter" hat Eltern in Sachen Zukunftssicherung noch nie beruhigt. Das Musical fokussiert auf die Sturm-und-Drang-Jahre Goethes und erspart uns seine Biographie (Spoiler: in späteren Jahren wurde es massiv langweiliger).

Goethe ist rasend verliebt in Lotte. Er wirbt um sie, blind für die Tatsache, dass Vater Buff ganz gewiss nicht einen Leichtfuß wie ihn als Schwiegersohn haben will, sondern einen wie den soliden, aufrechten und etwas langweiligen Albert Kestner. Lotte selbst verliebt sich natürlich in Goethe, weil der mit Worten umgehen kann wie sonst niemand, den sie kennt.

Der schönste Tag

Dem kundigen Zuschauer ist, auch wenn er den "Werther" nicht kennt, schnell klar, wohin der Hase läuft. Lottes Vater hat Kestner bereits sein Ok signalisiert. Aber der hat Muffen vor dem Antrag, denn er weiß um Lottes romantische Ader, und auch, dass er diese Gefühle seiner Zukünftigen nie wird befriedigen können. So bittet er den Freund Goethe, ihm doch sprachlich behilflich zu sein.

Die Szene "Jagd auf das Reh" ist eine der stärksten des Musicals. Und Sie verstehen das bitte genauso zweideutig, wie es gemeint ist. Vorne ist Goethe mit Kumpels auf der Jagd und erklärt Kestner dabei, wie man einen richtig guten Antrag stellt. Hinten auf der kleinen Bühne macht Kestner, was Goethe ihm souffliert und schafft so den Schuss ins Herz. Lotte bleibt nur noch das Ja. Das ist in dieser Doppelperspektive für das Publikum ein Hochgenuss. Denn wir werden so ja zum Mitwisser und Mitleider – wir wissen, dass die handelnden Personen gerade gar keine Ahnung haben, in welche Fallstricke sie geraten.

Ein Musical voller Easter Eggs

Wer Spass dran hat, findet in diesem Musical das, was man bei DVD-Editionen Easter Eggs nennt. Mignons "Nur wer die Sehnsucht kennt" wird zitiert (Wilhelm Meisters Lehrjahre), eine Mephisto-ähnliche Figur und so etwas wie eine Walpurgisnacht kommen vor (Faust), die Anfangszeile des Gedichts "Mir schlug das Herz, geschwind zu Pferde" wird zitiert (es wurde vor dem Werther geschrieben). "Leck mich im Arsch" als Reaktion auf eine versemmelte Prüfung (das Zitat stammt aus dem Götz von Berlichingen) und das Faust-Zitat "Was diese Welt im Innersten zusammenhält" dürfen natürlich auch nicht fehlen. Auch Assoziationen an Gemälde kommen vor, z.B. "Déjeuner sur l’herbe" von Claude Monet.

Welcome to the show

Ein Musical lebt von der Ohrwurm-Qualität seiner Melodien – und von starken Hauptdarstellern. In Bad Hersfeld kann man Abla Alaoui als Lotte und Philipp Büttner als Goethe bewundern, ein fein aufeinander eingestimmtes Paar, dem man die Liebesbeziehung jederzeit abnimmt. Schade ist nur dass fast alle anderen Rollen klischeehaft bleiben, was besonders bei Albert Kestner, dem Nebenbuhler Goethes, schmerzt. Gerade ihm hätte man mehr Profil gewünscht. Noch ärger erwischt es Goethes Vater, der als wandelnder Aktenordner Sentenzen von sich gibt und damit nicht nur den Sohn nervt.

Von den Nebenfiguren am individuellsten wird Goethes Freund Wilhelm Jerusalem porträtiert – denn seine Geschichte ist so etwas wie der dunkle Spiegel der Lotte-Goethe-Beziehung. Bei Wilhelms Liebe zu einer verheirateten Frau geht’s tragisch aus, nach einer durchzechten Nacht erschießt er sich. Goethe hingegen entscheidet sich fürs Dichten. So zeigt das Stück zwei Möglichkeiten auf, wie unglückliche Liebesgeschichten enden können – Selbstmord oder Sublimierung.

Es gibt starke Melodien, etwa die Titelmelodie "Goethe", Wilhelms Lebensthema "Carpe Diem", oder auch "Liebe ist wie Wasser", mit dem die Väter für Vernunft und Vernunftehen werben. Wunderbar das "Irgendwann geht für uns ein Himmel auf", mit dem Lotte ihren Verzicht auf Goethe verklärt und in die Ehe mit Albert einwilligt. Auch ihre Selbstsuggestion "Heut wird er sein, mein schönster Tag" mit ihren endlos vielen Wiederholungen ist grandios.

Bemerkenswert ist, dass das Musical durchkomponiert ist. Es gibt eigentlich keine Dialoge, immer wird gesungen, manchmal fühlt man sich an Rezitative in der Oper erinnert, wenn von einer zur anderen Szene übergeleitet wird. Manchmal dachte ich ans High School Musical, hin und wieder an die Rocky Horror Picture Show oder auch an Cold Play.

Mir ist die Musik insgesamt aber ein bisschen zu sahnesoßig, sie lässt musikalisch zu wenig Raum für Differenzierungen – weder zwischen den Personen noch zwischen verschiedenen Emotionen. Aber – und das ist fürs Publikum ein Plus – sie stellt die Stimmen quasi ins Schaufenster und bringt sie optimal zur Geltung.

Ein modernisierter Goethe

Ich habe nicht verstanden, warum die Inszenierung permanent im vorderen Bühnendrittel bleibt. Das macht das Stück klein, und es wird noch kleiner, weil eine kleine, verschiebbare Bühne den verfügbaren Raum weiter beschneidet.

Das ist kein überzeugendes Raumkonzept, und recht viel mehr als wildes sich im Kreis bewegen, auf die kleine Bühne rauf und wieder runter ist dann auch nicht drin. Auch die Lichtregie bezieht die gesamte Ruine viel zu selten in die Inszenierung ein. Schade. Die Stiftsruine bietet so viel mehr!

Kann man Goethe uns Heutigen anders nahebringen als durch Begriffe wie "größter deutscher Dichter" und "Dichterfürst"? Man kann nicht nur, man muss. Das Musical wedelt den Staub runter. Wenn wir neu verstehen, dass Goethe im "Werther" auch nichts anderes erzählt als unsere Daily Soaps wie "Rote Rosen" und "GZSZ", dann sind wir vielleicht auf der richtigen Spur. Dann kapieren wir, Goethe ist nicht von gestern. Wenn wir uns auf den "Werther" einlassen, verstehen wir auch, dass Goethe ein grandioser Geschichtenerzähler war. Ein Sprachkünstler. Und ein ausgesprochen unangepasster Künstler. Auch diese Geschichte erzählt das Musical.

Intendant Jörn Hinkel hat der Hersfelder Zeitung gesagt, er glaube, dass Zuschauer "im Sommer vielleicht nicht die ganz intellektuelle Totalüberforderung haben oder ein Regiekonzepttheater sehen wollen." Für diesen Grundgedanken kann man ihm nur sehr, sehr dankbar sein. Ihm geht es ums Berühren und Mitleiden an einem "schönen, manchmal vielleicht auch nachdenklichen Abend". In diesem Musical gelingt das wunderbar. (Jutta Hamberger) +++


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