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Zappenduster um Big Ben - O|N-Archivbild: Dennis Schmelz

REGION Wut über leere Regale und Spritmangel

Selber schuld? Brexit-Folgen mit Häme quittiert - Sorge um sozialen Frieden

09.10.21 - Die Versorgungslage in Großbritannien kommt nicht aus den Schlagzeilen, obwohl Premier Boris Johnson weiterhin beteuert, es gebe eigentlich kein ernsthaftes Problem weit und breit. Seit drei Wochen bestimmt die Benzin- und Lebensmittelkrise die politische Debatte im Königreich und sorgt in der gebeutelten Bevölkerung für heftigen Unmut. Inzwischen wurden landesweit Soldaten rekrutiert, die fehlenden Kraftstoff an die ausverkauften Tankstellen liefern sollen. Die leeren Regale in den Supermärkten sorgen ebenfalls für Besorgnis, Branchenverbänden zufolge sollen sich die bis Weihnachten sogar noch verschärfen. Außer über die Knappheit an Treibstoff und Lebensmitteln gibt es zunehmend Kritik in der Bevölkerung an steigenden Preisen für Energie, Sprit und Ernährung. Im europäischen Ausland gibt es statt Mitleid mehr Schadenfreude und Häme für die selbstverursachte Lage. 

Auch die britische Fleischindustrie klagt über akuten Mangel an Arbeitskräften wie Fahrern und Schlachthofmitarbeitern. Das führe dazu, dass in den kommenden Wochen zehntausende Schweine gekeult und verbrannt werden müssten. Wegen der fehlenden Fahrer können die Tiere nicht in den Schlachthof transportiert werden und wegen fehlender Metzger nicht geschlachtet und weiterverarbeitet werden. Notgedrungen will die konservative Regierung jetzt doch befristete Arbeitsvisa an EU-Arbeitskräfte ausgeben. Doch nur vorübergehend, denn man wolle nicht erneut billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ins Königreich kommen lassen. Die Situation scheint verfahren, ohne dass sich praktikable Lösungen aus der Versorgungskrise abzeichneten. 

Michael Hamperl Archivfoto: O|N

Michael Hamperl von der Spedition Zufall kommentiert die aktuellen Schwierigkeiten bei unseren britischen Nachbarn mit: "Das haben Logistiker genauso vorausgesehen!" Die Lager hier seien voll, der Export stocke, die britische Wirtschaft lahme erheblich. Der bürokratisch aufgeblähte Zoll und die neuen Restriktionen machten den Lieferverkehr für Europäer unattraktiv. "Mit dem Brexit haben sich die Engländer ganz klar ein Eigentor geschossen", kommentiert er die Lage. Der bis dahin problem- und geräuschlose Warendurchfluss auf die Insel sei inzwischen Geschichte. Rohstofflieferungen verzögern sich, Waren stehen wochenlang in der Halle. Und Lkw-Fahrer vom Kontinent ließen sich doch nicht mit einer für drei Monate befristeten Arbeitserlaubnis nach England locken. Trotz aller Schadenfreude über die vorhersagbaren Probleme durch das Ausscheiden aus der EU regt sich auch Mitgefühl, zumal ja fast die Hälfte der Briten gegen den Brexit gestimmt hatten. "Die Leute, die sich jetzt dort um den Sprit prügeln, tun mir aufrichtig leid", sagt Hamperl.

Romina Gausmann, Firma Desoi Foto: Privat

Romina Gausmann von der Firma Desoi, Spezialist für Injektions- und Industrietechnik in Kalbach bestätigt die schwierig gewordenen Exportabläufe: "Die Handelsbeziehungen zu Großbritannien sind sehr schwierig, es gibt extrem lange Lieferzeiten und in deren Folge unzufriedene Kunden." Die Abwicklungen am Zoll seien aufwendig und dadurch viel langwieriger geworden, man brauche viel Geduld und Nerven. Dazu kämen Teuerungszuschläge auf Material, was dazu führt, dass  Preise nicht gehalten werden konnten. Insgesamt eine unbefriedigende Situation für alle Exporteure.

Chris de Burgh hat es schon 2017 im O|N-Interview gewusst: "Der Brexit ist das Dümmste, ...Archivfoto: O|N

Als absolut hellsichtig zeigt sich heute, was Weltstar und Fulda-Fan Chris de Burgh schon 2017 im O|N-Interview gesagt hat: "Der Brexit ist das größte Desaster und das Dümmste, was die Briten seit Jahrhunderten gemacht haben. Ich glaube es ist ein Beispiel dafür, dass die Demokratie nicht funktioniert. Wir haben 51 Prozent, die 49 Prozent erklären, was in ihrem Leben passieren soll - das ist so falsch. Ich denke David Cameron hat einen Fehler gemacht, das Referendum in die Wege zu leiten, und Theresa May ebenso, als sie zu den allgemeinen Wahlen aufrief. Ich denke, würde ein neues Referendum gestartet werden, würden sich die Briten gegen den Austritt aus der EU entscheiden. Die meisten jungen Leute wollten in der EU bleiben. Die Leute, die aus der EU austreten wollten, haben so viele Lügen erzählt über Einwanderung und vieles mehr. Wir Iren sind stolz darauf, in der EU zu sein. Es ist ein absolut falscher Schritt gewesen", so der Künstler und Komponist.

Rod Williams Archivfoto: O|N

Exil-Brite und Wahl-Fuldaer Rod Williams ist angesichts der aktuellen Lage ebenfalls hin- und hergerissen zwischen Häme und großer Besorgnis um seine Landsleute auf der Insel: "Natürlich ist alles, was dort gerade passiert, eine Bestätigung dafür, dass der Brexit einfach eine Schnapsidee war und ist. Aber ich habe gleichzeitig auch Angst, dass die Spaltung und die sozialen Gräben in der Gesellschaft dadurch irreparabel vertieft werden." Die Idee von Premier Johnson, die Armee für die fehlenden Lkw-Fahrer einzusetzen, sei ein absolutes Armutszeugnis. "Die Stimmung ist miserabel, die Leute sind wütend und sorgen sich wegen der steigenden Preise, das Gas ist teuer, es gibt Lieferengpässe und Hamsterkäufe verschärfen das noch", sagt er. Er hoffe, dass Boris Johnson über kurz oder lang das Handtuch werfe - doch das könne dauern.

Bridget Schreiner Archivfoto: O|N

"Das ist alles wie ein schlechter Traum", sagt Bridget Schreiner, Übersetzerin und ebenfalls Fuldaer Britin. Egal wie man 2016 abgestimmt habe, heute offenbare sich doch für jeden das Desaster des Brexits. Ihre Verwandten, die nicht in London, sondern dem Nordosten von England lebten, hätten sich zunächst über die Meldungen von Benzinknappheit und Lieferengpässen gewundert. Denn auf dem Land habe sich das erst mit Verspätung gezeigt. Jetzt würde der Spritkonsum überall gedeckelt, wenn überhaupt Benzin da ist, darf man höchstens für 30 Pfund tanken. "Das gibt extrem viel Unmut an den Tankstellen, die Leute pochen auf ihr Recht zum Volltanken und attackieren die Angestellten, die das ja durchsetzen müssen, verbal." Den dringlichen Aufrufen ans europäische Festland, sich doch jetzt als Lastwagenfahrer zur Verfügung zu stellen, werde kaum jemand folgen. Vor allem die Arbeitskräfte aus Osteuropäer seien sehr schlecht behandelt worden. "Dass dies alles Folgen von Corona sind, glaubt auch niemand mehr." Und ein schneller Ausweg aus der Krise sei nicht in Sicht, das sei trotz alle Vorhersagbarkeit sehr bitter. (Carla Ihle-Becker) +++


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