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Aufwühlende Spurensuche in der Rhön - Michael Imhof: Juden in der Rhön
18.10.21 - Am 26. Juli stellte Dr. Michael Imhof im Kanzlerpalais Unterm Hl. Kreuz sein neues Buch vor. Man kann das nicht anders sagen: "Juden in der Rhön" ist Spurensuche, Schatzsuche, Sach- und Abenteuerbuch. Das Buch erschien bereits 2017, wurde aber zum Jubiläum "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland" erweitert und überarbeitet.
Ein Autor als Schatzsucher
Von 400 Jahre jüdischen Lebens ist erschütternd wenig sichtbar geblieben, die Nationalsozialisten haben im Ausradieren ganze Arbeit geleistet. Man kann fast sicher sagen: Was noch da ist, hat Dr. Imhof gefunden. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt ihn das Leben der Juden in Fulda und Umgebung, seine Forschungsergebnisse hat er in mehreren Büchern vorgestellt. Ihm war kein Weg zu weit, kein Archiv zu staubig, keine Mühe zu groß. Dieser Forscherehrgeiz und die Leidenschaft für sein Thema machen das Buch berechtigt zu einem, das man "verdienstvoll und wertvoll" nennen kann.
Vielleicht mit die größte Leistung des Buchs ist es, uns aus der irrigen Haltung zu reißen, Judentum in Deutschland sei ein Thema der NS-Zeit gewesen. Falscher kann man nicht liegen. Beim Lesen und Schauen in diesem Buch kann man sehr gut nachvollziehen, wie viel wir dem Judentum verdanken, in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Genauso aber auch, durch welche Höhen und Tiefen das Verhältnis von nicht-jüdischen und jüdischen Deutschen in den Jahrhunderten gegangen ist.
Erste Statistiken über die Juden in der Rhön
Eine Gemeinde, deren jüdische Geschichte Dr. Imhof besonders intensiv beleuchtet, ist Tann. Weitere Schwerpunkte sind Wüstensachsen, Weyhers, Gersfeld, Poppenhausen, Hettenhausen und Schmalnau. Aus den Jahren 1722/30 stammt die erste Statistik über Juden in der Rhön. In Tann lebten damals sechs jüdische Familien – insgesamt 19 Personen. Sie alle waren unvermögend und oft kaum dazu in der Lage, das Schutzgeld zu bezahlen, viele waren als "Betteljud" eingestuft.
Das heißt, die Lage der meisten Juden war wirtschaftlich äußerst prekär. Die Rhön war ohnehin keine reiche Gegend, der geduldeten Minderheit der Juden bot sie wenig Möglichkeiten, mehr als das Existenzminimum zu erwirtschaften. Naturgemäß versuchten die Juden, sich halbwegs zu etablieren, durch Hauskauf und Handel – sehr schön kann man das im Kapitel "Juden im Tanner Wirtschaftsleben des 18. Jh." nachlesen. Die Gestattung des Marktrechts 1798 in Tann brachte für jüdische Kaufleute und Händler Erleichterungen. Spannend und aufschlussreich das Kapitel über den "Jüdischen Alltag" – von Schule, Religion, Synagoge, Friedhof, Umgang mit den christlichen Nachbarn und Übergriffen auf Juden lesen wir da. Die in der Regel von den katholischen Pfarrämtern geführten Geburts-, Trauungs- und Sterberegister – die sie auch für die jüdische Bevölkerung führten – gewähren Einblicke in deren privates Leben.
Das Miteinander war nie konfliktfrei
Der Autor beginnt in der Reichsritterschaftlichen Zeit zwischen Absolutismus und Aufklärung, beleuchtet die Napoleonische Zeit mit Code Napoléon und enttäuschten Hoffnungen, die Moderne ab Mitte des 19. Jh. mit der beginnenden bürgerlichen Emanzipation und natürlich das 20. Jahrhundert, indem sowohl NS-Diktatur als auch der Neuanfang nach dem Krieg dargestellt werden. Man kann sich gut orientieren und die Periode ansteuern, die man gerade besonders interessant findet und über die man mehr wissen will. Ein sehr schönes Beispiel für die ambivalente Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung ist das sogenannte Bayerische Judenedikt von 1813, in dem man gleichzeitig schrittweise integrieren wollte, ohne jedoch tradierte Beeinträchtigungen aufzugeben. Ab 1816 galt dieses Edikt auch für die Rhöner Juden. Welche Dilemmata sich auftaten, schildert Dr. Imhof am Beispiel der Juden in Weyhers und Lütter. Er erzählt Geschichten und Schicksale einzelner jüdischer Handwerker und Händler und macht so besonders deutlich, was die Verordnungen für die Menschen wirklich bedeuteten.
In der Rhön sind Juden erst seit 400 Jahren nachweisbar. Das Miteinander war nie wirklich konfliktfrei. Vorgeschrieben war, wieviele Juden sich in einem Gebiet niederlassen durften. Judenordnungen bestimmten, wie sich jüdische Familien zu verhalten hatten. Für vieles war ein Judenschutzgeld zu entrichten. Die christlichen Zünfte schlossen Juden aus. All das sind Gründe, warum Juden bestimmte Berufe häufiger ergriffen (z.B. Viehhandel, Hausieren, Geldwechsel). Reich wurden sie damit nicht.
Allmähliche bürgerliche Emanzipation
Die rechtliche Stellung der Juden änderte sich erst durch die Reichsverfassung von 1871. Den weit verbreiteten Antisemitismus aber konnte auch diese Verfassung nicht vertreiben. Aber sie ermöglichte den Juden endlich die berufliche Emanzipation und allmähliche bürgerliche Integration.
Erste Vereine werden gegründet, etwa Chewrath Habichurim, ein jüdischer Geselligkeitsverein, im Jahr 1833. Es gibt jüdische Geschäfte und Kaufhäuser – wie das von J. Liebstädter und S. Bachrach in Gersfeld, das Kolonialwarengeschäft von Sally Jüngster in Tann, die Kaufhäuser von Maier Sichel, Stern & Freudenthal sowie Josef Heilbronn in Tann, die Metzgerei von Meier Rabenstein in Tann. Eine Karte von 1930 zeigt für Tann 27 jüdische Geschäfte und Kaufhäuser an.
Jüdische und deutsche Familien der oberen Bürgerschicht sind kaum zu unterscheiden – gut zu sehen an der Aufnahme der Familie Rödelheimer aus Wüstensachsen, die auch das Cover des Buchs ziert, oder der von Familie Stern aus Fulda, Fabrikanten und Gründer der Lack- und Farbwerke Stern in Fulda. Man hat es zu etwas gebracht und zeigt das.
Auch Schulen werden nun zunehmend erbaut, den Wert der Bildung für den eigenen Aufstieg verstand die bürgerliche Gesellschaft sofort. Heute existieren nur noch die Gebäude in Gersfeld, Wüstensachsen und Fulda. Und nur in Fulda ist das Gebäude weiterhin im Besitz einer jüdischen Gemeinde. Die Lehrer an den Schulen hatten ein deutsch-patriotisches Selbstverständnis, "vaterländische" Gedenk- und Feiertage wurden ganz selbstverständlich mitgefeiert. Jüdische Schüler stellten einen überproportional hohen Anteil der Oberrealschüler (30-40 Prozent). Und als deutsche Patrioten zogen viele jüdische Männer in den Ersten Weltkrieg. Auf den Kriegerdenkmälern für die Gefallenen sind ihre Namen mit verzeichnet.
Antisemitismus und das Grauen des Dritten Reichs
Auch wenn die jüdische Bevölkerung rechtlich gleichgestellt war, auch wenn viele von ihnen beruflich und sozial aufstiegen, auch wenn sie Patrioten waren – Antisemitismus gab es immer. Viele Vorfälle zeigen, dass die gesetzliche Gleichstellung formal war, aber keine breite gesellschaftliche Akzeptanz hatte. "Mochten einzelne Landjuden auch zu Unternehmern aufsteigen – der Antisemitismus gab noch dem letzten Tagelöhner im Dorf die Möglichkeit, ihre soziale Stellung als unrechtmäßig abzulehnen. Mit Hilfe der religiös motivierten Judenfeindschaft und des wirtschaftlich argumentierenden Antisemitismus konnten sich auch die verarmten Kleinbauern sozusagen sozial über den jüdischen Händler erheben und in ihm nichts sehen als einen Ungläubigen und potenziellen Wucherer", zitiert Dr. Imhof im Buch aus Monika Richarz‘ Studie zum Landjudentum.
Antijüdische Stereotype und Klischees befeuerten den Antisemitismus weiter. Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden Ausgrenzung und Diskriminierung systematisiert. Jüdische Unternehmer und Kaufleute mussten ihre Gewerbe abmelden und verkaufen – weit unter dem marktüblichen Preis. Die Teilnahme am öffentlichen Leben wurde schrittweise verboten. Ab 1938 mussten alle Juden die Zwangsnamen Sara und Israel als zusätzliche Vornamen führen. Im selben Jahr mussten alle Juden Vermögen über 5.000 Reichsmark offenlegen – der erste Schritt zur späteren Beraubung durch den Staat. Im November machte die Reichspogromnacht klar, wie die Zukunft von Juden in Deutschland aussehen würde: Sie hatten keine Lebensgrundlagen mehr. Wer gedacht hatte, schlimmer könne es nicht werden, wurde eines Schlechteren belehrt: Es folgten die systematische Vernichtung und Ermordung von sechs Millionen Juden. Die Listen der aus Tann, Gersfeld, Wüstensachsen und Schmalnau deportierten und ermordeten Juden kann man im Buch nachlesen.
Gedenkorte für das Grauen des Holocaust gibt es viele – in Fulda und der Rhön. Wichtiger ist es, antisemitischem und faschistischem Gedankengut beherzt entgegenzutreten. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – sagt das Grundgesetz in §1. Die Erinnerung an jüdische Opfer ist das eine, das gute Miteinander mit den hier lebenden Juden das andere. Es geht um unser gemeinsames Deutschland.
Zum Weiterlesen,- schauen und -hören
https://jennifer-alka.photography/der-judenfriedhof-in-kleinbardorf-rhoen/
(Jutta Hamberger)+++
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