

Auður Ava Ólafsdóttir, Miss Island - Im Land der Vulkane und Dichterinnen
28.02.22 - 130 aktive Vulkane. Gletscher und Geysire, Nationalparks und Nordlicht, töltende Ponys – Island ist das vielleicht schönste nördliche Land der Welt. Lebensstandard wie Pro-Kopf-Einkommen gehören zu den höchsten in der Welt. Island hat eine Elfenbeauftragte, und Straßen werden umgeleitet, wenn in einem Gebiet Elfen vermutet werden. In keinem anderen Land der Welt herrscht so viel Gleichberechtigung. Also – alles woke in Island?
Vulkanischer Chauvinismus
Sie ahnen es: Das war nicht immer so. Aus dieser "so war das nicht immer"-Zeit erzählt der Roman "Miss Island", der uns in die 1960er Jahre zurückführt. Island war damals noch konservativer als der Rest Europas. Das bekamen ganz besonders die Frauen zu spüren, aber auch alle anderen jenseits des gesellschaftlichen Mainstreams (schwul, lesbisch, dunkelhäutig etc.). Hekla, die nach Islands bekanntestem Vulkan benannt ist, mag das nicht akzeptieren. Aus Dalir im Norden der Insel macht sie sich auf nach Reykjavik, um ihren Traum zu leben – sie will Autorin werden. Das Problem dabei ist nur, dass das gesamte Land davon überzeugt ist, dass der Autor oder Dichter oder Poet an sich männlich ist.
Wir schreiben das Jahr 1963. In den USA macht die Bürgerrechtsbewegung unter Marin Luther King Schlagzeilen, Präsident Kennedy wird ermordet. Die Röcke werden kürzer, die Auftritte der Beatles sorgen für fanatisch kreischende Fans, Sylvia Plath begeht Selbstmord, weil ihr Mann sie für eine andere Frau verlässt. Diese und andere Nachrichten aus der sich eruptiv verändernden Welt jenseits Islands sickern nur spärlich ins Land – und wenn, dann kaum in angemessener Berichterstattung.
In Island spucken die Vulkane zuverlässig Lava und die Männer genauso zuverlässig Chauvinismen aus. Für Frauen scheint es nur zwei Karrieren zu geben: Miss Island und Gegenstand männlich-erotischer Träume werden, oder Hausfrau und Mutter. Aber Hekla lässt sich nicht entmutigen. Im Bus nach Reykjavik sitzend versucht sie, "Ulysses" zu lesen, obwohl ihr Englisch dafür eigentlich nicht gut genug ist. Auch James Joyce schützt sie nicht davor, dass Männer in ihr vor allem eine blonde, schöne junge Frau sehen. Blond, jung, weiblich – drei Gründe, Hekla als sexuell permanent verfügbares Objekt anzusehen und ihre Berufswünsche lächerlich zu machen. Schon im Bus beginnt ein Mitreisender damit, sie partout für den nächsten Miss-Island-Wettbewerb anwerben zu wollen.
Eng gesteckte Grenzen
In Reykjavik leben bereits zwei Freunde Heklas, deren Leben sich in der Hauptstadt nicht wesentlich von dem in Dalir unterscheidet. Da ist einmal Jón John, dem seine Mutter den Namen des unbekannten Vaters genauso wie den eines großen isländischen Dichters gegeben hat. Er ist schwul – in einem Land, in dem per Gesetz und Haltung Schwule gleichgesetzt werden mit Kriminellen und Pädophilen. Jón John will ans Theater und Kostüme schneidern, aber die einzigen Jobs, die er bekommt, sind solche auf Fischtrawlern, auf denen die Seeleute ihn drangsalieren. Was für Hekla ihre Remington-Schreibmaschine, ist für ihn seine Nähmaschine.
Heklas Freundin Ísey ist jung verheiratet mit einem Bauarbeiter, der des Lesens kaum mächtig ist, sie hat bereits ein Baby und das zweite ist unterwegs. Ihr Leben ist so erstickend langweilig, dass sie sich in ihr Tagebuch rettet und über Dinge schreibt, die nicht sind. Heklas Besuche mit Büchern und später Kanapés aus dem Hotel, in dem sie arbeitet, v.a. aber die Gespräche, die die beiden Frauen führen, sind für Ísey so etwas wie eine Rettungsleine.
Hekla, Jón John und Ísey – drei Freunde, die sich bedingungslos unterstützen und gegenseitig in ihren Lebensträumen bestärken, statt permanent Rollenzuweisungen vorzunehmen. Und die doch immer wieder Rückschläge erleben, gerade wegen der gemeinsamen Freundschaft daran aber nicht zerbrechen.
Über was soll ich denn schreiben?
Es ist fast zwangsläufig, dass Hekla bei der Arbeit im Hotel – weil sie so schön ist, wird sie im Service eingesetzt – irgendwann einen Mann kennenlernt. Das Buch lässt relativ offen, inwieweit die Beziehung zu Starkađur, der meist nur der ‚Dichter‘ genannt wird, Liebe oder Pragmatismus ist. Denn auch der Dichter hätte Hekla gern so, wie andere Männer sich ihre Frauen ‚zurichten‘ – mit Kittelschürze und großer Begabung am Herd, verfügbar im Bett, und naja, solange, bis er sie da hat, kann sie ja ruhig schreiben.
Ihr Name sollte ihm eigentlich Omen genug sein, "wenn ein Mann mit einem Vulkan zusammenlebt, weiß er, dass unterirdisch glühendes Magma brodelt", kommentiert er ihre schriftstellerischen Ambitionen. Die Beziehung zerbricht an Heklas Lebenswünschen – und an des Dichters Erkenntnis, zwar gern ein Poet sein zu wollen, aber keine Ahnung zu haben, worüber er schreiben soll. Im Café ‚Koffi‘ schien das – unter vielen anderen rauchenden und trinkenden angehenden Poeten – viel einfacher zu sein. Hekla ist fasziniert und gleichzeitig irritiert von dieser sich selbst inszenierenden Bohème, die sich selbst genug ist und nicht viel mehr zustande bringt als Geschwurbel und hin und wieder ein veröffentlichtes Gedicht. Und die, genau wie der Rest des Landes, mit der Vorstellung einer schreibenden Frau nicht klarkommt.
Heklas beständig wachsendes Manuskript genauso wie ihre Freundschaft mit Jón John, den der ‚Dichter‘ immer nur den ‚Perversen‘ nennt, führen zu Eifersuchtsszenen. Schließlich verlässt Hekla ihn, und der Dichter wird Taxifahrer. Ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Insel hinter sich lassen
Durch Heklas Augen und in ihren Berichten werden all die Einhegungsversuche für uns schmerzlich greifbar – bis hin zu den Wunden, die sie schlagen. Physische bei Jón, der oft genug von seinen nächtlichen Streifzügen auf der Suche nach Liebe verprügelt zurückkehrt, seelische bei Ísey, der die Kraft fehlt, sich aus ihren bedrückenden Lebensumständen zu befreien, jetzt-erst-recht-Wunden bei Hekla, die sich nicht beirren lässt.
Ich habe zwei absolute Lieblingsszenen in diesem Buch. Die eine ist ein grandioses, fast surreales Highlight im Roman – der Weihnachtsbesuch bei des Dichters verwitweter Mutter, die sich als Schwiegermutter in spe mit erdrückender Sohnesliebe und schier überbordenden Mahlzeiten inszeniert. Wer danach nicht wegläuft, dem ist nicht zu helfen. Die andere ist Heklas Gespräch mit einem Verleger, dem sie ihr Manuskript geschickt hatte. Ihr Talent erahnt er, erklärt ihr aber, man könne sie leider, leider nicht veröffentlichen, sie schreibe einfach nicht so wie die anderen Autoren. "So etwas" – Jón John, sein Leben und seine Träume – stehen Pate für Heklas ersten Roman – hält der Verleger für unverkäuflich.
Danach weiß Hekla – it’s time to go. Und das tut sie dann auch, gemeinsam mit Jón John, dem so klar ist wie ihr, dass er seine Freiheit nur finden wird, wenn er die Insel verlässt. Als Lebenserleichterung gehen beide eine Ehe ein, das erspart unnötige Diskussionen und Fragen – denn so emanzipiert ist auch das Ausland noch lange nicht, eine alleinstehende, schreibende Frau und einen schwulen Mann als Selbstverständlichkeit zu empfinden. Lesen Sie diesen manchmal melancholischen, manchmal ironischen Roman, der voller Sehnsucht, Träume und Zärtlichkeit steckt – und wenn’s wieder geht, buchen Sie eine Reise in das Island von heute. Vielleicht mit Dankbarkeit besonders für die Isländerinnen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Land so ist, wie wir es heute lieben. Für mich ist Auður Ava Ólafsdóttir eine Entdeckung, ich freue mich darauf, mehr von ihr zu lesen.
Übrigens: #WirSindStark
Beim Lesen kam es mir so vor, als ob diese für Frauen so extrem unbefreiten 60er Jahre fast zwangsläufig zum 24. Oktober 1975 geführt haben, jenem Tag, an dem Islands Frauen beschlossen, ihr Leben zu verändern. An diesem Kvennafrídagurinn oder ‚Frauenruhetag‘ weigerten sich mehr als 90 Prozent aller Isländerinnen, zu arbeiten, zu kochen oder sich um die Kinder zu kümmern. Die Männer hatten dies zunächst belächelt, Konservative spuckten Gift und Galle, aber das Land stand hinter den streikenden Frauen. Am Kvennafrídagurinn begann Islands Aufstieg zum Musterland der Frauenrechte. Das geschah nicht gleich, dafür aber umso nachhaltiger. Der Tag war ein Fanal, das Frauen klarmachte, was sie erreichen können, wenn sie gemeinsam vorgehen.
Rezensionen
https://www.perlentaucher.de/buch/audur-ava-olafsdottir/miss-island.html
(Jutta Hamberger)+++
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