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Edgar Selge hat am Mittwochabend den Literaturpreis im Fürstensaal des Stadtschlosses erhalten. - Alle Fotos: Martin Engel

FULDA Oh Vater, mein Vater

Vergabe des Literaturpreises: Edgar Selge, Hast Du uns endlich gefunden 

19.05.22 - Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld merkte man die Freude an, im endlich wieder vollbesetzten Fürstensaal ein Fest der Literatur feiern zu können. Denn zum vierten Mal wurde der Fuldaer Literaturpreis für ein Erstlingswerk vergeben, und auch die Jury des Literaturpreises 2022 (Zsuzsa Bánk, Jan Brandt, Timon Karl Kaleyta (Autoren), Christoph Schröder und Dr. Hanna Engelmeier (Literaturkritiker) war fast vollzählig versammelt. Preisträger Selge war mit seiner Frau, der Schauspielerin Franziska Walser, gekommen. 

Begeisterter OB, emphatischer Laudator

Der Oberbürgermeister erzählte vom Ersttelefonat mit dem neuen Preisträger, und dass Selge es lustig gefunden habe, in seinem Alter (er ist 74) mit dem Preis für ein Erstlingswerk ausgezeichnet zu werden, den andere vielleicht viel mehr gebraucht hätten. Ein Gedanke, der einem bei diesem Preisträger in der Tat kommen kann. Die musikalische Umrahmung durch das Bläserquintett des Jugendsinfonieorchesters Fulda passte ganz besonders gut zu diesem Buch, in dem Musik eine so große Rolle spielt. Die fünf jungen Solisten spielten Sätze aus zwei Haydn Divertimenti und das Rondo aus Zemlinskys Humoreske.  
 

Christoph Schröder, der genauso gern Fußballspiele pfeift wie Bücher rezensiert und Frankfurt-Fan ist, war an diesem Abend – obwohl Frankfurt im Europa League Finale spielte – nach Fulda gereist, um ein Buch zu würdigen, das ihn tief berührt hatte. Schröder ist ein angenehm unkanonischer Kritiker, in einem Fragebogen über sich selbst hat er einmal gesagt, er habe immer das gelesen, was ihm Spaß gemacht oder ihn getroffen habe. Das ist eine Linie, die ich nicht nur sehr gut verstehe, sondern auch teile. Für ihn war Selges Buch ein Geschenk, auch, weil er es als paradigmatische Geschichte aus dem Nachkriegsdeutschland gelesen hat. 
 

Your cup of tea – oder eben nicht 

Reden wir über das Buch! Die FAS pries es als das Debüt des Herbstes 2021, also ist es ein gutes Buch, oder? Falsche Frage. Es geht nie um gute oder schlechte Bücher, lassen Sie sich das niemals einreden. Es geht immer um Bücher, zu denen Sie als Leser eine Beziehung herstellen können und die deshalb für Sie Bedeutung entfalten – oder eben nicht. Ich muss, während ich das schreibe, an meine langjährige beste Freundin Agnes denken, mit der ich seit Jahrzehnten über Bücher und Filme diskutiere. Ganz oft sind wir uns herzlich uneinig, aber: wir probieren immer aus, ob das, was die eine mag, auch etwas für die andere ist. Und wenn wir ein Buch finden, in das wir uns beide verlieben, empfinden wir das als Glücksmoment.  

Meine Freundin mag Selges Buch sehr, ich nicht. Genauer: ich mag das Buch, wenn es cringe oder komisch ist, ich mag es in den Passagen, in denen es von Musik erzählt. Ich mag es nicht bei den Befindlichkeitsüberprüfungen des jungen Edgar. 

Eine Kindheit in den 1960er Jahren 

Selge erzählt aus der Perspektive des 12-jährigen Edgar eine deutsche Kindheit in den 1960er Jahren. In seiner Familie sind die Spuren des Nationalsozialismus noch längst nicht verschwunden. "Es kann doch nicht alles falsch sein, womit ich aufgewachsen bin!" ist das Lebensmotto seiner Eltern. Die sind kultiviert, machen Hausmusik und lesen viel, klassische Bildungsbürger eben. Sie verehren in ein und demselben Satz die Dirigenten Kempf und Karajan (beide opportunistische NS-Sympathisanten), und machen gleich darauf ‚jüdische‘ Geiger wie Menuhin oder Heifetz verächtlich. Sie sprechen Mendelssohn das wahre Deutschtum und die echte Tiefe mit einer Leichtigkeit ab, dass einem schlecht wird. 
 

Der Vater – als Gefängnisaufseher direkt nach dem Krieg eine Zeitlang für inhaftierte NS-Generäle wie Manstein, Kesselring & Co. verantwortlich – findet nichts dabei, mit diesen Herren zu fraternisieren. Ebenso leicht fällt es ihm, seinen Sohn regelmäßig mit dem Rohrstock zu verprügeln oder ihn (und all seine Söhne) sexuell zu belästigen. Immer dann, wenn Selge den Blick nicht auf sich und seinen Vater richtet, wenn etwa seine Brüder zu Wort kommen oder Nebenfiguren aus dem Schatten treten, geht das Tempo hoch, wird es dialogisch, lebendig, dramatisch – und oft sehr amüsant – eine solche Passage las Selge auch vor.  
 

Ist dies nun die paradigmatische Erzählung der deutschen Nachkriegszeit? Das sah der Laudator so, viele Rezensenten auch, und auch Selge hat in einem Interview diesen Anspruch formuliert. Ich teile diese Einschätzung überhaupt nicht. Es ist die individuelle Geschichte der Familie Selge. Es ist der Umgang dieser – sehr konservativen –Familie mit dem Erbe des Dritten Reichs, es ist die sehr spezielle Gewaltbereitschaft dieser Familie, es sind die Unglücke der Mitglieder dieser Familie. Das wird auch durch manchen prätentiösen Satz nicht paradigmatischer. Und unter anderen Dächern sah es ganz anders aus. Was die Selges mit anderen deutschen Familien jener Jahre teilen, sind Generika – die strenge Erziehung, die Überbleibsel der NS-Zeit, die untergeordnete Stellung der Frau, den Mief der 60er Jahre.   

Hausmusik


Für mich das Highlight in Selges Buch sind die Passagen, in denen er über Musik und übers Musizieren schreibt – über Üben und Spielen, über Hören und Verstehen, über die Selbstzweifel, ob man gut genug ist, über die Konzerte, über verschiedene Interpretationen, über die Frage, wie wichtig die politische Grundeinstellung eines Musikers ist, ja sogar die Gedanken, wie deutsch oder nicht so richtig deutsch Musiker und Komponisten sind. Da schreibt einer, der Musik lebt, atmet, versteht, das ist klug, intensiv und nachdenklich.  
 
Musik bestimmt das Leben dieser Familie. Alle spielen ein Instrument, regelmäßig gibt es Hauskonzerte, der Vater lädt dazu gern professionelle Geiger ein und begleitet diese am Klavier. Die Mutter darf nicht mitspielen, weil sie nach Ansicht des Vaters nicht gut genug ist, also macht sie die Schnittchen und blättert die Noten um. Bei diesen Konzerten müssen auch die Häftlinge antreten. Natürlich begleitet von Gefängniswärtern, damit sie während des Konzerts nicht auf dumme Gedanken kommen. Da sitzen sie dann und bewundern die Möbel in der Direktoren-Wohnung, die sie fast alle eigenhändig hergestellt haben. Dieses Konzert-Setting erzeugt eine Atmosphäre, die man am besten mit dem Wort ‚cringe‘ zu fassen bekommt. Die Gänsehaut rührt nicht von musikalischer Ergriffenheit.  

Die unbesungene Heldin 

Die Person, die mich in diesem Familien-Setting am meisten interessiert, ist Edgars Mutter Signe. Die wollte ursprünglich nicht heiraten, sondern studieren und einen Beruf ergreifen. Aber dann kam Hitler, Frauen werden in ihrer Rolle neu definiert. Signes Vater kontaktiert den abgewiesenen Bewerber mit dem Hinweis, die Gelegenheit wäre recht günstig, die Tochter würde jetzt wohl zustimmen. Eine Rosenkavalier-Aufführung besiegelt Signes Schicksal. 
 

"Warum hat sie diese öde Sackgasse nicht bemerkt?", fragt Selge. Eine Frage, die mich wütend macht, denn natürlich hat die Mutter die Sackgasse gesehen, aber eben keinen Ausweg. Der doppelte Verrat der Männer an ihr lässt Signe nie mehr los und zieht sich wie ein Riss durch ihr Leben. Denn auch die gönnerhafte Art ihres Mannes ist ein Verrat, genauso sein Beharren auf seiner unangreifbaren Autorität. Er lebt sein Leben, sie kriegt Kinder, führt den Haushalt und hat’s irgendwann am Magen. Es gibt viele Frauen, die diese Sackgasse nur zu gut kennen. 

Selge hat sich dafür entschieden, den Vater-Sohn-Konflikt ins Zentrum zu stellen. Deshalb geht es v.a. um männliche Befindlichkeiten, um die "schlaffen, seelenlosen Gespenster, die alles verbockt haben" (so in einem inneren Monolog der Mutter). Wenn man das mag, ist man gut aufgehoben in Selges Buch, sonst eher nicht. 

Leider notwendiges PS


Es ist noch nicht so lange her, dass Fulda an der ‚Zonengrenze‘ und damit am Rande Deutschlands lag. Das 11th Armored Cavalry Regiment Blackhorse war bis 1994 hier stationiert, Point Alpha liegt nur wenige Kilometer entfernt. Wir kannten die Szenarien des Kalten Kriegs und wussten um das ‚Fulda Gap‘ – wir waren, je nach Argument, in den 1980ern für oder gegen die Nachrüstung, aber für uns alle war die Bedrohung real und nie weit weg.  

Beantworten Sie für sich selbst, ob Edgar Selge, der zu den Erstunterzeichnern des offenen Briefs an Kanzler Scholz gehört (29.04.2022, https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463), der Stadt, dem Preis und seinen bisherigen Preisträgern zur Ehre gereicht. Meine Antwort lautet – nein. Das "J’accuse" dieses selbstbezogenen, professoralen Sofa-Pazifismus stößt mir auf, genauso die Attitude, etwas erzwingen zu wollen. So bleibt am Ende nur der bittere Beigeschmack über einen Autor, der sich verrannt hat. Im Fürstensaal blieb dieser blinde Fleck allerdings freundlich ausgespart und es gab viel Applaus für den Preisträger. 

Lesetipp: 


Wenn Sie eine wirklich aus der Bahn werfende Familiengeschichte von Missbrauch und Misstrauen suchen, lesen Sie Edward St. Aubyns Melrose-Trilogie, insbesondere den ersten Band "Schöne Verhältnisse". Hier gibt’s keine Selbstbezogenheit, sondern Lakonie, Poesie und Grausamkeit. (Jutta Hamberger)+++


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