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Den Krieg in der Ukraine empfinden viele Schülerinnen und Schüler in Hessen als große Belastung - Fotos: O|N-Archiv/Carina Jirsch

REGION Ukraine-Konflikt belastet hessische Schüler

Aufgewacht in einer anderen Welt - "Krieg kannte man nur aus Erzählungen"

30.06.22 - Für viele Kinder fühlt es sich derzeit an wie ein Traum - einer, aus dem sie so schnell wie möglich wieder aufwachen wollen. Sie sind mit einer nie dagewesenen Angst konfrontiert - der vor Angst und Gewalt. Das, was Schülerinnen und Schüler bisher nur aus dem Geschichtsunterricht kannten, ist nun bittere Realität. Doch wie gehen Kinder mit den Geschehnissen in der Ukraine um - und welche Möglichkeiten gibt es, junge Menschen in Hessen in diesen schweren Zeiten zu unterstützen? 

Der 24. Februar 2022 - ein Datum, das Historiker wohl einmal als Zeitenwende beschreiben werden. Es ist der Tag, an dem seit langer Zeit wieder Krieg in Europa ausbricht – und das weniger als zwei Flugstunden von Deutschland entfernt. Bereits die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen haben bei Kindern und Jugendlichen teilweise nicht nur zu Lernrückständen, sondern auch zu erheblichen psychischen Belastungen geführt. Auch Eltern und Lehrkräfte fragen sich, wie sie das Thema aufgreifen und Kinder und Jugendliche unterstützen können.

Direktorin Anke Schüler kann sich noch gut an die "Stimmung" der Schülerinnen und ...Foto: ON-Archiv/Christian P. Stadtfeld

"Krieg ist viel näher als gedacht"

"Wir haben seit geraumer Zeit eine Intensivklasse, in der 18 Kinder aus der Ukraine unterrichtet werden. Hin und wieder werden sie auch mit den Regelklassen gemischt, beispielsweise im Kunst-, Sport- oder Englischunterricht. Unsere Schülerinnen und Schüler merken, dass der Krieg viel näher ist als gedacht", so Anke Schüler, Direktorin der Konrad-Adenauer-Schule in Fulda, die betont: "Sie kennen die schrecklichen Bilder nur aus den Nachrichten und den Krieg nur aus Erzählungen, beispielsweise durch die Großeltern. Hier werden sie direkt mit den Ereignissen in der Ukraine konfrontiert und kommen mit Geflüchteten in Austausch. Das Leid dieser jungen Menschen beschäftigt die Schülerschaft sehr", berichtet die Direktorin.

An den Kriegsbeginn am 24. Februar kann sich die Direktorin noch gut erinnern: "Die Schülerschaft hatte einen enormen Gesprächsbedarf, viele waren verunsichert, hatten Angst und wussten nicht, mit der Situation umzugehen. Immer wieder wird deutlich, dass das Thema auch in den Familien zu Hause unterschiedlich behandelt wird. Während einige Eltern versuchen, ihren Kindern den Krieg so gut wie möglich zu erklären, wird in anderen Familien der Konflikt tot geschwiegen. In russischen Familien wird noch einmal ganz anders über die Ereignisse gesprochen", so Schüler, die betont: "Jedes Kind geht daher anders mit der Situation um, eine Belastung ist jedoch grundsätzlich zu verspüren".

Die Schülerinnen und Schüler der Konrad-Adenauer-Schule sammelten Spenden für ...Foto: Konrad Adenauer-Schule

Große Solidarität der Schülerschaft

Vor einigen Wochen entschieden sich die Schülerinnen und Schüler der Konrad-Adenauer-Schule daher auch, den Menschen in der Ukraine helfen zu wollen. Gemeinsam wurden Kuchenverkäufe, Spendenaktionen und andere Aufrufe veranstaltet. "Die Kinder haben unter anderem jede Menge Schilder mit ukrainischen Übersetzungen angebracht, sodass sich die Geflüchteten an der Schule möglichst gut zurechtfinden. Es ist bewegend, bei der Schülerschaft eine so große Solidarität zu spüren", lobt die Direktorin die Willkommenskultur. "Kinder wachsen in Wohlstand auf und von heute auf morgen tobt nur wenige tausend Kilometer entfernt ein Krieg. Das macht Angst."

Die Ereignisse in der Ukraine tangierten mittlerweile nahezu alle Fachbereiche. "Sowohl in Geschichte, Erdkunde, Politik oder auch in Chemie spielt der Konflikt eine große Rolle. Der Krieg bringt leider so viel mit sich, beispielsweise steigende Öl- und Energiepreise oder unterbrochene Lieferketten und Geschäftsbeziehungen. Das beeinflusst teilweise auch die Berufsorientierung unserer Schülerinnen und Schüler".

Nachrichten sollten gezielt ausgewählt und die Situation kindgerecht und altersangemessen ...

Sorgen und Ängste

Unterrichtet wird die ukrainische Klasse von einer Lehrerin aus Moskau, die bereits einige Jahre an der Konrad-Adenauer-Schule tätig ist. "Hier gibt es keine Barrieren. Man versucht sich mit Übersetzungen zu helfen. Die russische Sprache ist der ukrainischen in vielen Bereich doch sehr ähnlich. Es ist schön zu sehen, wie sich die Geflüchteten integrieren, beginnen Freundschaften zu schließen und sich an unserer Schule immer mehr wohlfühlen".

Haben die Schülerinnen und Schüler Redebedarf, so werden andere Themen beiseite geschoben. "Die Kinder haben viele Fragen, wollen den Konflikt verstehen. Zugleich haben sie Sorgen und Ängste, die sie belasten. Dem wollen wir gerecht werden und die jungen Menschen so gut es geht unterstützen". 

Die Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine ist groß - auch bei den Kleinsten ...

Gedanken und Sorgen ernst nehmen

Aus schulpsychologischer Sicht könne die Informationsflut Kinder und Jugendliche in dieser Situation überfordern. Daher sollten Nachrichten gezielt ausgewählt und die Situation kindgerecht und altersangemessen erklärt werden. Ignorieren sei keine angemessene Reaktion. Es helfe Kindern nicht weiter, mit ihren Sorgen alleine gelassen zu werden, sondern erhöhe eher Verunsicherung und Angst.

Die Reaktion auf belastende Ereignisse falle dabei sehr unterschiedlich aus. Erwachsene sollten ihren Kindern daher anbieten, über ihre Eindrücke und Ängste zu reden, sie trösten und ihnen Sicherheit und Zuwendung geben. Die Aufmerksamkeit könne außerdem auch auf positive Aspekte der Krise gelenkt werden, zum Beispiel auf die große Hilfsbereitschaft oder die Tatsache, dass viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten.

Auch das Team der Schulpsychologie des Staatlichen Schulamts Fulda kennt die Sorgen und Ängste der Schülerinnen und Schüler gut. Aus schulpsychologischer Sicht sei es daher wichtig, die Gedanken und Sorgen der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. "Gerade zu Beginn des Ukrainekriegs haben wir in vielfältigen Gesprächen einen erhöhten Redebedarf und eine erhöhte Belastung der Schülerschaft festgestellt", so die Psychologen.

Aus schulpsychologischer Sicht sei es wichtig, die Gedanken und Sorgen der Kinder ...

Deutliche Verunsicherungen zu Kriegsbeginn

Das Thema Ukrainekrieg wurde laut dem Team von den Lehrkräften immer dann aufgegriffen, wenn es von den Schülerinnen und Schülern thematisiert wurde. Vonseiten des Staatlichen Schulamts wurden außerdem schulpsychologische Hilfestellungen und Empfehlungen versandt sowie ein Austauschforum für Schulleitungen und Lehrkräfte initiiert, in welchem neben dem aktiven und angeleiteten Austausch zur Beschulung ukrainischer Schutzsuchender auch fachliche Fragen eine Rolle spielen. "Auch Hilfestellungen für eine passende Gesprächsführung und Kommunikation werden angeboten. Zu Kriegsbeginn waren deutliche Verunsicherungen und Ängste bei den Schülerinnen und Schülern spürbar. Insbesondere war dies in den niedrigeren Jahrgangsstufen zu erleben", betonen die Schulpsychologen.

Das Team der Schulpsychologie des Staatlichen Schulamts Fulda Foto: Staatliches Schulamt Fulda

Schulpsychologische Unterstützung und Angebote

Neben vielfältigen schulpsychologischen Empfehlungen und Hilfestellungen, welche an alle Schulen im Schulamtsbereich verschickt wurden, stand die Schulpsychologie den Schulen auch beratend zur Seite. Viele Lehrkräfte sind aktiv geworden und haben versucht, die Schülerinnen und Schüler aus der Passivität und Angst herauszuholen, indem sie sie kreativ in Aktion gebracht haben. So fanden zahlreiche Solidaritätsbekundungen für und mit den schutzsuchenden Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine statt. Gemeinsam wurden ukrainische Flaggen, Friedenstauben oder Willkommensplakate gebastelt.

Das hessenweite Förderprogramm "Löwenstark" stärkt Schülerinnen und Schüler anlässlich der aktuellen Ereignisse dabei in ihrer Resilienz und ihrer Lebenskompetenz. Dazu zählt beispielsweise "Safe Place" von NATAL (Israel Trauma and Resiliency Center), ein Training für Schülerinnen und Schüler, das den Umgang mit Stress und Belastungen in den Mittelpunkt stellt. Des Weiteren beschäftigt sich das Unterrichtsprogramm "IMPRES" (adaptiert vom Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter an der Universität Bielefeld) mit der Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz und die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen.

Die erlebten Ereignisse haben bei den geflüchteten Kindern aus der Ukraine ihre Spuren ...

Alltagsroutinen geben Halt und Sicherheit

Diese Programme wurden bereits vor einiger Zeit in das Repertoire der Schulpsychologie aufgenommen, um die psychischen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. "In dieser zusätzlich durch den Krieg belasteten Zeit für Schülerinnen und Schüler können auch diese Programme sehr hilfreich sein", wissen die Schulpsychologen. "Da Kinder und Jugendliche sich stark an den sie umgebenden Erwachsenen orientieren, ist es wichtig, dass diese Sicherheit und Halt ausstrahlen. Die Beibehaltung von Alltagsroutinen gibt Sicherheit und Orientierung und kann zugleich auch Ablenkung und Entspannung bedeuten", so das Team, das betont: "Insbesondere Hobbys oder sportliche Aktivitäten können Stress abbauen und fördern das Wohlbefinden."

In den Schulen werden die ukrainischen Kinder von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern ...

"Kinder sind sehr mitfühlend"

Mitgefühl und Empathie sind auch bei den Kleinsten spürbar. "Unsere Schülerinnen und Schüler waren anfangs sehr betroffen, haben gemeinsam für ukrainische Kinder gebastelt und Spenden gesammelt, sodass die geflüchteten Kinder mit auf Klassenfahrt fahren können. Das war wirklich schön zu sehen", weiß auch Johanna Hübl, die seit neun Jahren als Grundschullehrerin an der Fliedetalschule unterrichtet. Trotzdem gehe jedes Kind mit der Situation anders um: "Die Reaktionen und vor allem das Wissen über die Geschehnisse in der Ukraine sind da völlig unterschiedlich. Einige sind wirklich gut informiert, andere wissen gar nichts von den Ereignissen".

Gemeinsam mit den ukrainischen Schülerinnen und Schülern werden ukrainische Flaggen, ...

Besonders bewegt hat Hübl die Aussage eines jungen Mädchens: "Sie sagte, sie würde ihren Papa nicht alleine zurücklassen wolle, weil sie ihn gar nicht mehr umarmen könnte, wenn ihm dort etwas passiert", so die Grundschullehrerin, die betont: "Man merkt schon, dass der Krieg etwas mit den Kindern macht". Die psychischen Auswirkungen der Ereignisse in der Ukraine seien daher nicht zu unterschätzen - auch wenn sie sich von Kind zu Kind auf unterschiedliche Weise äußern. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Situation im Osten Europas eines Tages doch entspannt - und somit auch die schrecklichen, bedrückenden Nachrichten, die uns täglich erreichen, ein Ende haben. (Lea Hohmann) +++


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