Schon Goethes "Faust" wusste: Jedermann erwartet sich ein Fest

01.07.22 - "Ludi incipiant" oder "Die Spiele mögen beginnen": So sagten die alten Römer, und alle Beteiligten rund um die Bad Hersfelder Festspiele freuen sich darauf, wenn es am heutigen Freitagabend in der Stiftsruine endlich losgeht mit der inzwischen 71. Auflage im "Salzburg des Nordens". Vor der Uraufführung von "Notre Dame" in der Inszenierung von Intendant Joern Hinkel stehen Festakt und der Gang über den obligatorischen Roten Teppich. Kulinarische Verwöhnhäppchen sollen dafür sorgen, dass es neben dem künstlerischen auch den lukullischen Genuss geben wird.

OSTHESSEN|NEWS-Redakteur Bertram Lenz

Bertolt Brecht hat das Theater einmal als "moralische Anstalt" bezeichnet, und auch diese 71. Festspiele werden nicht frei sein vom Blick auf die Gegenwart, die derzeit alles andere als sorgenfrei ist. Hinkel selbst hatte zum Probenbeginn Brecht mit den Worten "Wir leben in finsteren Zeiten" zitiert und damit den Blick auf Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie und Umweltzerstörung gerichtet. Denn Kunst muss immer viel mehr sein als reine Unterhaltung, muss hinterfragen, zum Nachdenken anregen und sich auf politischer und gesellschaftlicher Ebene einmischen. Nochmal Hinkel: "Gerade jetzt ist es die wichtigste Aufgabe der Kunst, unsere Werte zu verteidigen und die Demokratie spürbar zu machen".

Und weil Kunst immer auch so verstanden werden sollte, den Außenseitern und Schwächeren in unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben, hätte es gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen "documenta"-Antisemitismus-Debatte kein besseres Eröffnungsstück geben können als "Notre Dame". Denn das Werk nach Victor Hugos Romanvorlage ist auch ein eindringlicher Appell, sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu stellen. Das letzte Wort an diesem Abend - "ASYL" - drückt eigentlich all' das aus, was sehr viele Menschen bewegt: Schutz vor Verfolgung und Krieg, Geborgenheit und Heimat (wenn auch nur auf Zeit).

2020 musste die Region wegen Corona die Festspiele entbehren, ab heute aber darf wieder "Freude und buntes Leben" rund um Bad Hersfeld herrschen (Hinkel). Denn man darf nicht vergessen, welch' Sogwirkung das Theaterereignis unter anderem auf Gastronomie, Hotellerie und Einzelhandel haben wird - Branchen, die wegen der Pandemie arg gebeutelt wurden und sich teilweise noch immer nicht ganz erholt haben. Die hohe Bedeutung der Festspiele hat ja inzwischen auch das ferne Berlin erkannt, wie am Bundeszuschuss in Höhe von 770.000 Euro ersichtlich ist. An dessen Zustandekommen Michael Roth, SPD-Bundestagsabgeordneter für Hersfeld-Rotenburg und Werra-Meißner, sicherlich einen nicht unerheblichen Anteil hat.

Joern Hinkel, davon sollte man ausgehen, wird auch dieser Festspielsaison seinen Stempel aufdrücken mit seiner klugen Ensemblemischung aus renommierten Namen und eher (noch) unbekannten Newcomern. Lange vergessen ist, dass Hinkel einst im Januar 2018 als Stellvertreter die Intendanz vom zurückgetretenen Dieter Wedel übernommen hatte und das Theaterereignis durch kluges und zugleich bedächtiges Wirken in ruhiges Fahrwasser gebracht hat. Freilich nicht zuletzt dank eines bewährten Teams hinter den Kulissen.   

Freuen wir uns also auf sommerliches Theatererleben in faszinierender Atmosphäre von Stiftsruine und Schloss Eichhof und auf spannende Rollen-Interpretationen ("Club der toten Dichter": Götz Schubert/Michael Rotschopf). 

Und nun gilt: "Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen. Und jedermann erwartet sich ein Fest." (Goethe, "Faust", Erster Teil). (Bertram Lenz) +++