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Der Pianist Igor Levit (Zweiter von rechts) mit der Auszeichnung, die OB Dr. Heiko Wingenfeld überreicht hatte. Rechts sein Laudator Michel Friedman. - Foto: Erich Gutberlet

FULDA Winfriedpreis verliehen

Pianist Igor Levit im Stadtschloss geehrt: Eine Antwort auf das Unmenschliche

04.10.22 - Diesen Text über die Verleihung des Winfried-Preises an Igor Levit beginne ich nicht mit dem, was Sie, liebe Leserinnen und Leser, vermutlich erwarten. Ich möchte an erste Stelle das rücken, was Igor Levit und seinem Laudator Prof. Michel Friedman heute am wichtigsten war – die jungen Menschen, die Musik erklingen ließen.

Seine Stimme erheben

Denn diesmal war die Musik nicht nur die übliche "Umrahmung" und damit, sind wir ehrlich, nett und unwichtig. Diesmal setzte sie den "frame" für das, wofür Preisträger und Preis stehen: Verständigung und – in Friedmans Worten – eine "Antwort auf das Unmenschliche". Mit ihren Instrumenten erhoben die Kinder ihre Stimme, waren sich Levit und Friedman einig. Heute war die Kultur deshalb nicht nur schönes Beiwerk, sondern so wichtig und zentral, wie sie immer sein sollte: Denn "solange es Kunst und Kultur gibt, gibt es eine Antwort auf das Unmenschliche", so Michel Friedman. Die Schülerinnen und Schüler der Musikschule waren zwischen 6 und 12 Jahren alt. Sie wurden begleitet von Marina Gajda, einer der Lehrerinnen an der Musikschule. Sie bewiesen Können – und sie bewiesen Mut. Den braucht es, wenn man sich in diesem Saal vor dieses Publikum wagt. Passt zu Levit. Dessen Lebensmotto lautet nämlich "No fear".

Onrie-Illay Bajrovic (Klavier) spielte Haydns "Scherzino" mit großem Können und schon großer Interpretationskraft. Und sein Kratzfuß als Dank war hinreißend! Jan Tukscher (Cello) interpretierte die "Cinquantaine" von Jean Gabriel Marie, eine Verneigung vor 50 Jahren Eheglück. Freunde, Familie und Nachbarn kommen und ehren das Goldene Ehepaar, sie tanzen, essen und feiern miteinander – und gehen durch das gemeinsame Fest gestärkt von dannen. Und damit spielt das Stück ja auch mit den Themen der Preisverleihung. Die "Russische Fantasie in d, No. 2" von Leo Portnoff, vorgetragen von Carla Schlitzer (Violine), war eine Reminiszenz an Levits Geburtsheimat. Abraham Goldfadens "Rozhinkes mit Mandlen", das Rosalie Weber (Klarinette) vortrug, ist ein bekanntes jiddisches Wiegenlied, das den ein oder anderen im Publikum zum begeisterten Mitsummen animierte. Jonathan Ortlieb (Klavier) schließlich setzte mit dem "Februar - Karneval" aus Tschaikowskys "Jahreszeiten" den musikalischen Schlusspunkt. Schade, dass dieser Klavier-Zyklus so selten in Konzertsälen erklingt! Es waren klug ausgewählte Stücke, mit Bezug zu den vielen Heimaten und Zuhauses des Preisträgers.

Der Winfried-Preis und sein Preisträger

21 Preisträger gibt es inzwischen, aber Levit ist der erste Künstler, der ihn erhält. Der Stifter des Preises, Heinz Waider, hatte als junger Mensch den Krieg erlebt und beschlossen, es müsse doch Wege geben, Menschen daran zu hindern, Kriege zu führen. Seine Idee war so einfach wie wirksam: Bringe Menschen aus verschiedenen Nationen zusammen, lasse sie Respekt und Verständigung erfahren und geben.

Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld führte in seiner Begrüßung aus, worin die europäische Dimension dieses Preises liege. In einer Zeit, in der wir schmerzlich, wenn auch nicht überraschend, erfahren, dass Frieden und Freiheit nicht mehr so selbstverständlich sind, wie wir dachten, gewinne die weitsichtige Idee des Stifters neue Bedeutung. Der Preis ehrt das ‚wir‘, weswegen Igor Levit ihn auch nicht für sein überragendes musikalisches Können erhielt, sondern für sein vielfaches Engagement – für die Natur, für Menschen in Bedrängnis, für Verfolgte, Geflüchtete, gegen Hass, Gewalt und Antisemitismus. Es ist bewusstes Bekennen, wenn Levit sich auf seiner eigenen Website als "Bürger, Europäer und Pianist" bezeichnet und oft genug von sich sagt, er wolle nicht der Mann sein, der nur die Tasten drücke. Immer wieder macht er auf die staatsbürgerlichen Pflichten aufmerksam, die wir alle haben – erst recht, wenn wir sehen, dass jemandem Unrecht geschieht. Levit nimmt dafür Kritik, Ablehnung, Hass und Drohungen in Kauf. In seiner Laudatio wird Friedman später sagen, Levit gehe sicher manches Mal nach Hause und müsse weinen, aber dann stünde er auf und mache weiter.

"Es geht immer um den Menschen"

Man muss Prof. Friedman dafür danken, dass er keine Norm-Laudatio hielt, die den Preisträger über den grünen Klee lobt. Mit leiser Stimme und großer Prägnanz stellte er uns, dem Publikum, sehr unbequeme Fragen. Man könnte seine Rede auch so auf den Punkt bringen: Warum eigentlich sind nicht wir Preisträger? Warum fallen wir durch unser Engagement nicht auf? Warum hört man unsere Stimme nicht? Warum nehmen wir so viel hin und winken so oft ab? Wann haben wir uns das letzte Mal für jemanden eingesetzt? Warum finden wir alle Demokratie gut, aber nur so wenige engagieren sich in politischen Ämtern? Nein, bequemes Lauschen und wohliges Würdigen waren in dieser Laudatio nicht im Angebot

"Es geht immer um den Menschen. Und es geht immer um die Frage, wozu der Mensch fähig ist." Das war der rote Faden von Friedmans Rede. Dabei verstellte er alle bequemen Worthülsen-Ausgänge. Nein, man müsse nicht Philosophie oder Moraltheologie studiert haben, um zu wissen, wann und wo rote Linien überschritten würden – dazu genüge der gesunde Menschenverstand. Und deshalb wüssten wir auch alle, dass unsere Gesellschaft an einer Kreuzung stehe, an der man die Frage nach der Zivilisation in aller Schärfe stellen müsse. Europa erlebe die größte Krise seit Gründung der EU.

In unserem Land gibt es eine Partei, deren Programm Ausgrenzung, Niedertracht und Verachtung ist und die jegliche Menschenwürde mit Füßen tritt – auch in Fulda bringt es die AfD auf 8%. All die schönen Floskeln, die für ein Wohlfühl-Aroma sorgen, wischte Friedman vom Tisch: "Ich brauche kein ‚Nie wieder!‘ und kein ‚Wehret den Anfängen!‘, weil nichts davon je umgesetzt worden ist." Diese hilflosen Formeln würden nur eins zementieren: das sind die, nicht wir – also kann man wegsehen, weghören, abwiegeln oder unbeteiligt bleiben. "Wir" machen so was ja nicht. Doch, tun wir.

Jede Form von Hass ist Menschenhass

Wer andere verfolgt, verächtlich macht, beleidigt und ausgrenzt – egal, aus welchem Grund – der hasst Menschen. Alle Menschen. Jeder Hass gegen Menschen meint uns alle, nicht nur die jeweils Betroffenen. Friedman zitierte Taboris Satz "Jeder ist jemand" und wies daraufhin, wie viele Menschen und Regierungen in Europa anderen das Recht, jemand zu sein und Menschenrechte zu haben, inzwischen abstritten. Mitten in Europa, mitten in der EU.

Levit sei, so Friedman, ein grenzenloser Mensch, ein Mensch, der immer wieder versuche, innere und äußere Grenzen zu überwinden. Jede Grenze mache unglücklich, die auf der Landkarte genauso wie die eigenen, inneren Begrenzungen, mit denen man zurechtkommen muss. Levit versuche immer wieder, die Beschränkungen aufzureißen, den Nebel zu lichten, für klare Sicht auch für sich selbst zu sorgen. Das sei oft traurig und schmerzhaft, und ginge nicht ohne Tränen. Er mische sich ein, er gehe Wege des Handelns und mache klar: Jeder einzelne Mensch kann die Welt verändern. Er und sie muss es nur wollen – und tun. Igor Levit verkapsele sich nicht in seiner Musik, ihn gehe alles etwas an. Er habe den Mut und das Rückgrat, seine Stimme zu erheben.

Wie er habe jeder einzelne von uns zwei Möglichkeiten. Man könne den schweren Weg gehen, sich anstrengen, das Denken lernen, Zusammenhänge verstehen und sich dann Meinungen bilden. Oder man macht es sich leicht, weiß nichts und lügt lieber – so lange, bis man die eigenen Lügen glaubt. "Wir können uns auf Igor Levit verlassen – kann er sich auch auf uns verlassen?" Mit dieser provokanten Frage beendete Friedman seine Rede, die hoffentlich in allen, die da waren, noch lange nachwirkt und nachklingt.

"Ich werde gesehen"

Ein sichtlich bewegter Igor Levit gab dem Publikum im Fürstensaal zwei Gedanken mit: Seine Freude, hier zu sein und geehrt zu werden einerseits, und doch fände er es auch sehr merkwürdig, dass ein Jude in Deutschland für seinen Kampf gegen Antisemitismus geehrt würde. Sein Zuhause sei seine Familie, seine Freunde, und "der große schwarze Kasten da". Er habe sich bewusst dafür entschieden, sich in Deutschland zu engagieren. Aber was hier "Erinnerungskultur" genannt werde, sei sein Leben, seine tägliche Erinnerung daran, wo er lebe und wer er sei. "Ich werde den Kampf gegen Antisemitismus immer und mit aller Kraft unterstützen, und doch wünsche ich mir manchmal, all das nicht sehen zu müssen, weil es so schmerzt. Und nein, ich habe keine Lösung für diesen Konflikt." Zum Gesehen-werden gehöre auch, dass dieser Konflikt gehört werde, es sei jedes Mal ein Faustschlag mitten ins Gesicht, wenn das nicht der Fall ist.

Artig bedankte Levit sich bei den Stiftern des Preises und der Stadt Fulda, "das gehöre sich ja auch so", sein großer Dank aber gelte den Kindern, die heute Musik gemacht hätten. "Ihr habt eure Stimme erhoben mit euren Instrumenten, das hat mich berührt, und es war bewegend und bemerkenswert."

Igor Levit und Beethoven

Das Konzert am Abend der Preisverleihung widmete sich Beethoven, einem Komponisten, der in Levits Leben großen Raum einnimmt. Er spielte die drei letzten Klaviersonaten op. 109 in E-Dur, op. 110 in As-Dur und op. 111 in c-moll. In seinem in diesen Tagen startenden Dokumentarfilm "No Fear", einer Erkundung seines Lebens, seiner Musik und der Bedeutung Beethovens für ihn, sagt Levit: "Du musst so furchtlos sein, wie Du nur kannst." Der Titel des Films verdankt sich einem Ausspruch Nina Simones, die Levit sehr verehrt ("Freedom is no fear"). Gehen Sie demnächst also auch ins Kino!

Beethoven plante diese 3 Sonaten als Trio, sie spielen miteinander, verweisen aufeinander, Aspekte der Formgestaltung tauchen immer wieder auf. Levit lotet die vielen Gefühls- und Stimmungsdimensionen dieser Sonaten aus. Es ist lyrisch, getragen, melancholisch, innig, wild, schroff, leise und laut. Manchmal wähnt man sich beschaulich am Ufer sitzend und aufs Meer hinausschauend, dann wieder kommt man sich vor wie Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer. Hier gibt es kein klassisches Ebenmaß, auch wenn Beethoven sich formell an die Sonatenform hält.

Levit spielt diese Sonaten weniger als Konzert für seine Zuhörer, sondern wie eine intensive, intime Auseinandersetzung mit Werk und Komponist, bei der wir Zeuge sein dürfen. Selten zwingt ein Pianist einen so zum Zuhören, man kann gar nicht anders. Levits Beethoven entfaltet eine schier unwiderstehliche Sogkraft. Man ist vom ersten bis zum letzten Takt gebannt. Und wenn sich dieses Ziehen im Herzen einstellt, dann weiß man für sich, jetzt hast Du einen Zipfel dessen erwischt, was Beethoven für Levit bedeutet.

Das ist kein Überwältigungs-Beethoven. Levit spielt Beethoven klar, luzide und durchaus eigenwillig – die Struktur der Musik offenbart sich. Unwillkürlich musste ich an Bach denken. Ein Beethoven, der wie Bach klingt. Kann es besseres geben? Über seine neue CD "Tristan", die gerade herausgekommen ist und die ich Ihnen sehr ans Herz lege, schrieb BR Klassik, der Vibe dieses Albums sei "nachts auf dem kahlen Berge". Stimmt. Das ist viel mehr Mount Everest ohne Sauerstoffmaske als Hüttenzauber und Romantik. Ähnliches gilt für Levits Beethoven. Viel zu gut zum Nebenherhören, eine Aufforderung zum Hinhören und sich Hingeben. Das Publikum dankte ihm diese intensive Stunde mit Standing Ovations. (Jutta Hamberger) +++

Weiterführende Links

https://www.youtube.com/watch?v=uDKQUzlEBrE

Nina Simone, Freedom: https://www.youtube.com/watch?v=nPD8f2m8WGI

Zu Levits neuem Album "Tristan": https://www.br-klassik.de/aktuell/br-klassik-empfiehlt/cd/igor-levit-neues-album-tristan-rezension-100.html


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