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Claus Peter Müller von der Grün - Foto: privat

REGION Point Alpha: Sehnsucht nach Freiheit

Claus Peter Müller von der Grün "Leben im Grenzbereich", Teil 2

09.11.22 - "Point Alpha ist authentisch. Der Ort macht Angst – und er macht traurig. Er macht klein und verloren. Er weckt die Sehnsucht nach Schutz, nach einem sicheren Ort frei von Bedrohung und nach einem Leben in Freiheit." Über sein neues Buch, aus dem dieses Zitat stammt und über Point Alpha sprach Jutta Hamberger für OSTHESSEN|NEWS mit dem Autor Claus Peter Müller von der Grün, der lange Zeit als Journalist aus Hessen und Thüringen berichtete. Hier folgt Teil 2 des Gesprächs.
 
O|N: Was war rückschauend das für Sie überraschendste Gespräch?

Das gerade erschienene Buch des Autors

MvdG: "Das mit Frau Hillenbrand, die ich gar nicht persönlich kannte und von der ich aus den Erzählungen, die ich zuvor gehört hatte, ein ganz anderes Bild hatte. Sie brachte mir eine Kastanie mit. Das sei bei ihr so Usus, die erste Kastanie, die sie im Herbst finde, bringe sie dem nächsten mit, den sie besuche. Ich wollte von ihr wissen, wo die Geschichte von Point Alpha für sie anfängt. Im zweiten Weltkrieg, sagt sie mir, lange, bevor sie geboren sei. Ihre Mutter und ihre ältere Schwester, damals ein Baby, waren die einzigen Überlebenden in einem Keller in dieser zerbombten Stadt Dresden, der Vater sei auf einem Himmelfahrtskommando der Wehrmacht gewesen."

O|N: Immer wieder Dresden.

MvdG: "Ja, Dresden tauchte in diesen Gesprächen immer wieder auf. Bei Frau Hillenbrand, auch bei Frau Stieber, und in meiner eigenen Familie. Das war eine tiefe Traumatisierung auch der nachfolgenden Generation. Ich bin in einem freien Land und ohne Krieg aufgewachsen, aber mit den Traumata der Kriegsgeneration. Das ist ein Kreuzungspunkt von Lebenslinien lang vor der eigenen Geburt."

O|N: Was ja einmal mehr klar macht, dass das Gerede von der ‚Stunde Null‘ eine der dümmsten Setzungen sein dürfte.

Fotos (8): Point-Alpha-Stiftug

MvdG: "Es gibt keine Stunde Null, selbst wenn sich das einige noch so sehr gewünscht haben. Geschichte speist sich immer aus sich selbst. In jedem Moment wird Gegenwart zu Geschichte. Diese unfassbaren Grenzübertretungen, die von 1933 an von Deutschland ausgegangen sind, gipfelten in einem Krieg, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte. Dessen Ausgang führte dazu, dass es Deutschland so erging, wie es ihm erging. Das Land wurde geteilt, und die Welt wurde geteilt. Das alles findet man in Point Alpha."

O|N: Im Vorgespräch haben Sie mir gesagt, Sie suchten besonders nach den ‚langen Linien‘. Was genau meinen Sie damit?

MvdG: "Es gibt Strukturen, die sehr lange bestehen bleiben. Die Spaltung der muslimischen Welt in Sunniten und Schiiten begann nach dem Tod des Propheten Mohammed und ist bis heute eine Begründung für Gewalt zwischen Angehörigen dieser Hauptzweige des Islam. Oder schauen Sie sich mal die Wahlergebnisse in den einzelnen Regionen Deutschlands in der Weimarer Republik und heute an. Vor allem, wenn wir in die Länder der früheren DDR blicken, scheinen bestimmte politische Einstellungen wie in der Kühltruhe konserviert worden zu sein."

O|N: Sehen Sie Strukturen, die sich heute wieder Bahn brechen?

Die nachgebaute Grenzanlage

MvdG: "Ja, nehmen Sie das Wahlverhalten. Thüringen war das erste Land mit einer NSDAP-Landesregierung und ist heute eines, in dem die AfD stark ist. Schauen Sie auf die Wählerwanderungen zwischen Linkspartei und AfD. Franz Müntefering hat mal gesagt: ‚Das politische Spektrum ist kein Spektrum, das ist in Wahrheit ein Kreis. Und hinterm Vorhang treffen sich die Ganoven von ganz rechts und ganz links‘. Und obschon die Bindung an die Kirche rapide geschwunden ist und weiter schwindet, wirkt die Prägung durch die Religion als Weltanschauung in den politischen Einstellungen fort."

O|N: In Fulda war das Zentrum vor 1933 die bestimmende politische Macht.

MvdG: "Richtig. Und per se neigt eine Partei, die sich Zentrum nennt, nicht zur Spaltung, sondern will alle einbeziehen. Sie kann als katholische Milieupartei auch nie nationalistisch sein, sie ist immer supranational, denn es gibt ja noch eine ‚Konzernspitze‘ in Rom. In den protestantischen Regionen war die Parteienlandschaft viel stärker aufgespalten. Dort gab es oft eine starke liberale Partei, eine starke Sozialdemokratie und starke extremistische Gruppen. Vieles von dem bricht jetzt wieder hervor. Nach 1945 hatten wir eine Bundesrepublik, der wichtige Stammländer der Reformation nicht angehörten. Die Stimmen aus Bayern, dem Rheinland und Westfalen hatten ein relativ stärkeres Gewicht, und auf einmal hatten wir einen Kanzler, der aus dem Rheinland stammte und dem Paris – vielleicht nicht nur geographisch – näher war als Berlin und Preußen."

Auch ein Original-Element aus der Berliner Mauer ist an der Gedenkstätte Point Alpha ...

O|N: Am 2. Oktober war wieder Feierstunde auf Point Alpha. Die Bilder davon wirkten stark ritualisiert. Ist uns Point Alpha ferngerückt?

MvdG: "War Point Alpha uns denn schon einmal nahe? Das ist das Kernproblem. Es war uns nicht nahe, weil es so schrecklich war. Wer wollte sich denn im Westen schon mit dem Fulda Gap beschäftigen? Ein paar haben es intensiv getan, natürlich das Militär und ganz sicher auch die Friedensbewegung. Aber sonst? Von der Ostseite her lag vor Point Alpha eine widernatürlich gezogene Grenze, die einen gefangen hielt. Das sind Symbole, die belasten und die man gerne wegräumt, wenn die Zeit dafür gekommen zu sein scheint – das ist ja durchaus verständlich."

O|N: Point Alpha wurde aber erhalten – was ja eine Geschichte ganz eigener Schwierigkeiten und Probleme war.

MvdG: "Die ich auch erzähle. Point Alpha ist die einzige Militäranlage dieser Art, die erhalten blieb, alles andere wurde im großen Konsens sang- und klanglos beiseitegeräumt. Wenn man so etwas erhält, dann hat man die Aufgabe, die darin liegenden Botschaften den Menschen immer wieder auf eine zeitgemäße Weise nahe zu bringen. Die Botschaften sind für gesamte Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt von Relevanz. Diese Vielfalt prägen selbstverständlich auch die älteren und alten Herren, die wir im Zusammenhang mit Point Alpha häufiger wahrnehmen, aber vielfältig ist die Gesellschaft eben auch, weil es junge und jüngere Menschen gibt. Und es gibt nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Die Welt ist bunter als ein klassischer Festakt am Point Alpha."

O|N: Die Frage hätte ich Ihnen auch gestellt, es sind auffällig wenig Zeitzeuginnen, die zu Wort kommen.

Bis hierhin und nicht weiter: Eine Straßensperre der sowjetischen Armee. ...

MvdG: "Ich war nicht ganz frei in der Wahl der Zeitzeugen, auch wenn wir noch ein bisschen nachgebessert haben. Außerdem können wir aus Versäumnissen lernen. Man kann ja weitere Gespräche führen, die Quellensammlung ausbauen und die Arbeit am Buch fortsetzen, vielleicht auch mit jungen Leuten, Filmemachern und Theaterleuten in der Redaktion. Übrigens: Bei vielen Zeitzeugen aus der katholischen Rhön saßen die Frauen ganz selbstverständlich beim Gespräch dabei und waren alles andere als abstinent."

O|N: Anlässe, sich mit Freiheit und Frieden zu beschäftigen, gibt es ja genug.

MvdG: "Putin hat uns gerade einen geliefert. Freiheit und Frieden sind nicht nur von innen bedroht, sondern auch von außen. Es ist unbedingt notwendig, neue Formate für Gegenwartsinteressierte zu entwickeln. Das Wichtigste ist immer: Es muss mich persönlich betreffen. Ich muss Nähe schaffen. Inhaltliche, räumliche und emotionale. Deshalb habe ich Menschen von hier zu Wort kommen lassen und das Buch weitgehend im Präsens geschrieben, um das Geschehen ganz nahe an die Leser zu bringen. Das ist mein zaghafter Versuch, Point Alpha zugänglich zu machen."

O|N: Am 7. November wurde Ihr Buch auf Point Alpha vorgestellt. Wen hätten Sie gern noch eingeladen?

Auf dem Außengelände ist dokumentiert, wie die Sperranlagen im Laufe der Jahrzehnte ...

MvdG: "Schulklassen aus Polen, Lettland, Frankreich und Spanien, mit denen wir über das Thema reden. Jemand wie den in Deutschland lebenden Filmemacher Aliaksei Paluyan, der aus Belarus stammt und dessen Film "Courage" sich mit der Demokratiebewegung in Weißrussland beschäftigt. Ich traf Aliaksei Paluyan während meiner Arbeit am Buch. Niemand sonst hat mir so interessiert zugehört wie er, als ich von dem Buch erzählte. Für ihn ist Unterdrückung Gegenwart, keine alte Geschichte aus dem Schulbuch. In der Begegnung mit Gleichaltrigen und Zeitzeugen, mit Oppositionellen aus Russland und Weißrussland könnten junge Leute auf Point Alpha den Herausforderungen der Vergangenheit begegnen, die heute wieder präsent sind. Die Dynamik wäre spürbar: Ich bin nicht allein, so etwas hat es schon einmal gegeben, Menschen waren damit schon einmal konfrontiert. Und dann begegnen die Zeitzeugen den jungen Menschen nicht als die Senioren, die sie heute sind, sondern als die jungen Menschen, die damals um ihre Freiheit kämpften. Und Point Alpha darf rausgehen und als Marke ein Forum schaffen für die Debatte um Freiheit und Frieden in europäischen Städten, denn die Themen der Gegenwart sind die Themen von Point Alpha!"

O|N: Wäre das ein neuer Erzählstrang für Point Alpha, jenseits des Klassikers vom Kalten Krieg und der Zonengrenze?

„Niemand hat die Absicht…“: Zitate und Aussagen, die im Zusammenhang mit der ...

MvdG: "Nicht unbedingt etwas Neues, aber die Botschaft muss immer in die jeweilige Zeit für das jeweilige Publikum neu oder anders formuliert werden. Vielleicht sollten wir alle die Nachkriegszeit und den Kalten Krieg anders erzählen – als die Zeit, in der Freiheit und Frieden bewahrt wurden, als die Zeit des Aufbruchs. Ja, es gab die Unterdrückung der Freiheit, die militärische Bedrohung und das Wettrüsten. Aber am Ende gab es keinen dritten Weltkrieg. Point Alpha ist auch eine Gedenkstätte, aber es ist nicht Buchenwald. Was ist stärker: Der Schmerz an Karfreitag oder die Freude an Ostern?"

O|N: Ich träume schon lange von einem Point Alpha Musical.

MvdG: "Ein Genre, das ein großes Publikum erreicht. Im ersten Teil des Buchs gibt es dafür genug Material. Die Leute interessieren sich für Geschichte, wenn sie personalisiert ist. Man könnte die Geschichte von Point Alpha in einer streng evidenzbasierten Mischung aus Realität und Fiktion erlebbarer machen. Etwa so, wie es Fernseh-Serien wie "Roots", "Holocaust" und "Heimat" getan haben. Eine Familiengeschichte über die Grenze hinweg böte sich ja geradezu an."

O|N: Weniger ‚Ballaststoffe‘ also?

Ein Symbol der Hoffnung: Die drei Tore sind die 14. Station am Ende vom "Weg der Hoffnung". ...

MvdG: "Die Grenzanlagen, der Kalte Krieg und die Pershing II rufen die immer gleichen schlimmen Bilder hervor. Und die müssen auch sein. Das Festhalten der Vergangenheit wirft einen richtig zurück. Aber wollen wir am Tiefpunkt verharren, den Blick zu Boden gerichtet? Nur, wenn man Abstand nimmt von einem Bild, kann man es neu sehen und etwas hinzulernen. Es gibt die Perspektiven der Vergangenheit, aber eben auch jene von Gegenwart und Zukunft."  
 
Zum Autor: Claus Peter Müller von der Grün wurde 1960 geboren Kassel, ist aber kein typischer Kasselaner. Denn seine Mutter kam aus Bayern, der Vater aus Westfalen. Die katholische Sozialisation in einer anderen (protestantischen) Umgebung forderte ihn früh zum Fragen heraus. Sein Berufsweg führte nach dem Studium der Journalistik über die Ruhr-Nachrichten, das ZDF-Studio in Düsseldorf schließlich zur FAZ. Als politischer Redakteur war er Korrespondent für Hessen-Thüringen. Seit 2016 ist Müller von der Grün selbständig, er begleitet und berät Entscheider. https://mueller-von-der-gruen.de/

https://www.dw.com/de/belarus-berlinale-courage-paluyan-dokumentarfilm/a-57826314

Jutta Hamberger führte das Interview mit Claus Peter Müller von der Grün ...Foto: Nicole Dietzel/Dinias

(Jutta Hamberger)+++


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