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Blick auf den berühmten Maidan - Fotos: privat

KYIV / MKK KINZIG.NEWS-Reporter in der Ukraine

Teil 1: Silvester in Kyiv? Silvester in Kyiv!

11.01.23 - Tagtäglich erreichen Deutschland unzählige Bilder und Nachrichten aus der Ukraine. Hunderttausende Menschen aus dem osteuropäischen Land sind inzwischen in Deutschland, auch bei uns im MKK: geflohen vor dem russischen Angriffskrieg. Doch die meisten Menschen sind nicht geflohen, sie sind weiter in ihrem Heimatland. Wie ist das Leben aktuell in der Hauptstadt Kyiv*? Wie kommt man dort hin, da der Luftraum gesperrt ist? Und was sind die Gedanken der Menschen? Ein KINZIG.NEWS-Reporter wollte es genauer wissen - und machte sich auf die Reise. Tobias Bayer besuchte das Land zum Jahreswechsel und hat Tagebuch geführt. Exklusive Einblicke in eine neuntägige Reise, die intensiver kaum hätte sein können. Heute: Teil 1. 

Tag 0: Silvester in Kyiv? Silvester in Kyiv!

Irgendwann im Dezember überlegte ich, was ich dieses Jahr an Silvester machen wollte. Silvester, ein Fest des Innehaltens, ein Tag der Hoffnung auf ein gutes neues Jahr. Ich musste an die Menschen in der Ukraine denken. Wenn jemand auch jeden noch so kleinen Tropfen Hoffnung braucht, dann die Ukrainer. Wie werden sie wohl Silvester feiern?

Ich brütete tagelang über dem Rechner, wälzte News-Seiten, Regierungsseiten, Twitter, sprach mit befreundeten Kriegsreportern über die Sicherheitslage. Es sind ruhige Tage in Kyiv, die Stadt wird wenig angegriffen. Trotzdem kreisen die Gedanken: Soll ich es wirklich machen? Schließlich rät das Auswärtige Amt weiter von einer Reise in die Ukraine ab, hat eine Reisewarnung und Ausreiseaufforderung für deutsche Bürger ausgesprochen. Doch ich will mir einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen, die Stadt erleben. Ich treffe Sicherheitsvorkehrungen und wage es. Ich werde Silvester in der Ukraine verbringen.

Doch wie komme ich hin? Da der Luftraum in der gesamten Ukraine gesperrt ist, kommt ein Flug nach Kyiv nicht in Frage. Also suchte ich nach den möglichen Alternativen. Prio 1: Sicherheit. Prio 2: Komfort.

Kerzen - für die Menschen in der Ukraine Gold wert

Bahnhof von Chisinau (Moldawien)

Kurz vor der Abfahrt in Chisinau in Richtung Kyiv


Freitag, 30. Dezember 2022 - Erst Flug, dann 16-Stunden-Nachtzug

Meine Wahl fällt auf einen Flug von Frankfurt am Main in die moldawische Hauptstadt Chisinau. Zugegeben: Ich kannte die Stadt vorher auch nicht. Von Moldawien wusste ich auch nur, dass es existiert und irgendwo bei Rumänien liegt. Ich buche - und werde richtig nervös. Jede kleine Meldung über Angriffe, Verletzte und Tote aus der Ukraine lässt mich zucken. Doch: Ruhe bewahren. 

Das Wichtigste im Gepäck neben Smartphone und Reisepass: Zwei Powerbanks und knapp sieben Kilogramm Kerzen. Kaum etwas benötigen die Menschen in Kyiv gerade dringender. Immer wieder fällt der Strom aus. 

Von der moldawischen Hauptstadt Chisinau aus ging es weiter mit dem Zug in Richtung Kyiv. Gut 16 Stunden im Schlafwagen. Der Preis: 130 Euro. Ich fahre erste Klasse, vor allem der Sicherheit wegen. Ich bin allein in dem Abteil, das für zwei Personen gedacht ist. Ich habe Glück: die Verbindung, mit der ich fahre, besteht täglich erst seit wenigen Tagen. Sie führt mich neun Stunden lang einmal quer durch Moldawien, bevor es nach zwei ausgiebigen Grenzkontrollen sechs Stunden durch die Ukraine geht. 

Ich will aus dem Fenster schauen, doch sehe nicht viel. Die Scheiben sind verklebt mit Folie. So sollen wohl unzählige von kleinen Splittern bei einer Explosion verhindert werden. Ich weiß nicht, ob ich das beruhigend oder beängstigend finden soll.

Die Gänge in den Nachtzügen sind eng, die Züge rustikal

Nachtzug von Chisinau in Moldawien in die ukrainische Hauptstadt Kyiv ...

Wenige Minuten vor der Ankunft in Kyiv: KINZIG.NEWS-Reporter Tobias Bayer ...


Samstag, 31. Dezember 2022 - Explosionen beim Mittagessen

Am späten Vormittag komme ich pünktlich in Kyiv an, ungewohnt für mich als Vielfahrer der Deutschen Bahn. Der erste Eindruck: Voller Bahnhof, keine Zerstörung sichtbar, einige, wenige Soldaten, Sicherheitskontrolle für Menschen, die in den Bahnhof wollen. Wüsste ich nicht, dass ich in einem Land angekommen bin, das seit bald einem Jahr einen Angriffskrieg erleidet, ich hätte es in den ersten Minuten wohl nicht gemerkt. Mit einem Uber geht es zu meinem Hotel. Check-In, Tasche ablegen, weiter. Ein leckeres Restaurant mit osteuropäischem Essen. Glühwein aufs Haus, preiswerte Speisen. Nice!

13 Uhr: Recht entspannt esse ich, ich bin gespannt auf die Erfahrungen der nächsten Tage. Ich schaue aus dem Fenster: die Straßen sind nicht voll, aber immerhin einige Menschen sind unterwegs. Der Krieg scheint mir weit, weit weg. Kurz vor 14 Uhr ertönt wie aus dem Nichts auf einmal eine Sirene - Luftalarm. Ich werde etwas nervös, bleibe jedoch erst einmal sitzen. Schließlich sind weiter Menschen auf der Straße zu sehen, Gäste im Restaurant und die Kellner servieren auch fleißig weiter. Dann sind Explosionen zu hören. Bumm, bumm, bumm. Vibration. Ich höre drei Explosionen direkt hintereinander, wenige Minuten später weitere. 

Ob es sich dabei um eine erfolgreiche Flugabwehr handelt oder ob es einen Einschlag gab, das ist (für mich als Laie) nur schwer zu unterscheiden. Die ukrainische Flugabwehr wird seit Monaten immer besser, doch gerade bei Großangriffen kann sie auch nicht restlos jede abgeschossene Rakete bändigen. Und auch bei einer erfolgreichen Flugabwehr können durch herabfallende Raketenreste Menschen getötet und Gegenstände beschädigt werden. 

Der Hauptbahnhof in Kyiv

Gemütliches Essen beim Georgier am Mittag des 31. Dezember - kaum war der letzte Bissen ...

Einer der zahlreichen Luftschutzräume, in denen die Menschen in Kyiv Schutz vor den ...

Einige der Explosionen, die ich hörte, waren besonders laut. Wie ich wenige Stunden später erfahre, handelte es sich dabei tatsächlich um "Treffer" der Russen. Weniger als zwei Kilometer entfernt von mir sind an zwei verschiedenen Orten Raketen eingeschlagen, haben unter anderem einen Teil eines Hotels weggerissen, als wäre es ein Kartenhaus. Ich muss schlucken. Ich mag mir nicht vorstellen, was gewesen wäre, wenn die Raketen nur zwei Kilometer weiter oder ich zwei Kilometer oder nur - ich will nicht. 

Ich habe verstanden, dass die Lage nicht so sicher ist, wie sie bei einem Spaziergang scheinen mag. Es ist Krieg, auch wenn es nicht an jedem Ort, um jede Uhrzeit danach aussieht.

Ich suche einen Luftschutzraum. Keine drei Minuten Fußweg entfernt ist ein Luftschutzkeller, rote Pfeile zeigen in der ganzen Stadt Wege zu diesen Bomben-sicheren Orten. Mit jeder Treppenstufe, die ich tiefer gehe, fühle ich mich ein bisschen sicherer. Drei Dutzend Kinder, Eltern, Senioren, Haustiere, die mit mir dort warten, bis der Angriff endet, es Entwarnung gibt. Sie sind entspannter als ich, kennen die Situation: sie ist Alltag für sie. Eine ältere Dame macht Kreuzworträtsel, eine junge Frau liest ein Buch, Kinder spielen, als wäre es ein Spielplatz. Es vergehen Stunden, bis der Luftalarm aufgehoben wird. 

Die Deutsche Botschaft in Kyiv

Rührendes Schreiben im Schaukasten der Deutschen Botschaft in Kyiv

Der Gucci-Store in Kyiv kunstvoll verhüllt. Schützt und sieht dabei auch noch gut ...

Ich gehe an die frische Luft, lese Nachrichten, sehe, dass mehr als ein Dutzend russischer Raketen nach Kyiv unterwegs waren. Die allermeisten konnten aber von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen werden – ein Glück. Nun geht das Leben weiter, ich kaufe Prosecco in einem Supermarkt, als wäre nichts gewesen. Draußen feiern werde ich nicht dürfen, die nächtliche Ausgangssperre von 23 Uhr bis 5 Uhr fast im ganzen Land gilt auch am Feiertag. Also: Gemütlicher Abend im Hotelzimmer. Denke ich... (tby) +++

*Warum Kyiv und nicht Kiew? Wir haben uns bewusst für die englische Schreibweise der Hauptstadt der Ukraine entschieden. Grund: Das hierzulande so geläufige deutsche "Kiew" ist eine Übersetzung des russischen Namens der Stadt, das englische "Kyiv" entspricht einer Übersetzung aus dem Ukrainischen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf KINZIG.NEWS.


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