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Prosecco im Luftschutzraum - surreal. - Fotos: Privat

KYIV / MKK KINZIG.NEWS-Reporter in der Ukraine

Teil 2: Silvester im Luftschutzraum: Raketenangriff & Prosecco

12.01.23 - Tagtäglich erreichen Deutschland unzählige Bilder und Nachrichten aus der Ukraine. Hunderttausende Menschen aus dem osteuropäischen Land sind inzwischen in Deutschland, auch bei uns im MKK: geflohen vor dem russischen Angriffskrieg. Doch die meisten Menschen sind nicht geflohen, sie sind weiter in ihrem Heimatland. Wie ist das Leben aktuell in der Hauptstadt Kyiv*? Wie kommt man dort hin, da der Luftraum gesperrt ist? Und was sind die Gedanken der Menschen? Ein KINZIG.NEWS-Reporter wollte es genauer wissen - und machte sich auf die Reise. Tobias Bayer besuchte das Land zum Jahreswechsel und hat Tagebuch geführt. Exklusive Einblicke in eine neuntägige Reise, die intensiver kaum hätte sein können. Heute: Teil 2. 

Sonntag, 01. Januar 2023

Noch bevor in Deutschland das Feuerwerk startete, heulten in Kyiv schon die Sirenen. Ortszeit 00:30 Uhr (Deutschland: 23:30 Uhr), Angriff auf Kyiv, der zweite in weniger als zwölf Stunden. In meinem Hotel gibt es einen kleinen, dunklen Bereich hinter mehreren Mauern, der mir als Luftschutzraum dienen wird und mich hoffentlich vor Bomben schützt.

Früher swipte ich stundenlang durch WhatsApp, Instagram und Facebook. Heute verharre ich den ganzen Tag in drei verschiedenen Telegram-Channels, die aktuelle Raketen- und Drohnen-Angriffe in der Ukraine melden. Jede Push-up Nachricht lässt mich kurz zucken. Nicht immer ist es eine Bedrohungslage in Kyiv. Doch immer dann, wenn eine Bedrohung in Kyiv gemeldet wird, muss es schnell gehen, dann bleibt nicht viel Zeit. Jetzt ist es wieder so weit, ich mache mich auf.

Meine wichtigsten Dokumente trage ich sowieso in einer Gürteltasche am Körper. Ich schnappe mein iPhone, meine Kopfhörer und eine Flasche Wasser. Manchmal noch meinen Laptop. K.N darf ja schließlich auch nicht zu kurz kommen. Silvester im Luftschutzraum also. Doch so ganz will ich mir die Stimmung auch nicht verderben lassen. Ich feiere einfach weiter. Sogar die Prosecco-Gläser kann ich noch schnappen. Irgendwo zwischen "All we have is now" und "Es kann ja nur besser werden" trinke ich also Rosé-Prosecco im Luftschutzraum.

Erinnerungs-Selfie im Luftschutzraum.

Im MKK strahlt Feuerwerk über dem Himmel, in Kyiv ist das verboten. Stattdessen greift Russland mit 45 Drohnen und einigen Raketen die ukrainische Hauptstadt an. Ein junger Mann, der Weihnachtsschmuck im Haar trägt und so fröhlich lachend durch das Hotel hoppst, erzählt anderen Gästen: "Ich habe meine halbe Familie im Krieg verloren." Vielleicht ist es gerade diese Silvester-Situation, die das Leben in Kyiv in diesen Tagen am besten beschreibt, weil sie so surreal, so unvorstellbar ist. Wieder vergehen Stunden, bis der Luftalarm aufgehoben wird. 


Am folgenden Morgen besichtige ich am Michaelplatz die Parade von zerstörten russischen Fahrzeugen. Hunderte Ukrainer machen einen Neujahrsspaziergang rund um den Platz, Dutzende schauen sich die Fahrzeuge genauer an, machen Fotos. Irre: Kinder klettern auf Panzer, erkunden die Kriegsfahrzeuge. Abenteuerspielplatz extrem. 

Der berühmte Maidan.

Beeindruckende Flaggenparade. Emotional.

Blick über Kiew.

In der Nacht: Wieder Angriff von Russland auf Kyiv.

Montag, 02. Januar 2023 - Alltagsleben in Kyiv

Spät aufgestanden nach einer erneut langen Nacht im Luftschutzraum. Zermürbend. Dieses Mal hatte ich weniger Angst, ich war schlichtweg genervt. 

Doch nun will ich weiter Kyiv erkunden. Maidan-Besuch. Metro-Fahren. Über die Klitschko-Brücke laufen. Und Party am Kontraktoma-Platz. Viele Kneipen, Bars, Restaurant sind dort. Da die Straßenbeleuchtung beschränkt ist, fällt das leuchtende Riesenrad umso mehr auf. Es strahlt. Der Platz ist belebt, wenn auch weit davon entfernt, voll zu sein. Die Menschen genießen den frühen Abend. Sie trinken, am liebsten Piana Vyshnia, einen sagenhaften Kirsch-Likör aus Lemberg. Er wird in eigenen Shops landesweit verkauft. 

Auf einmal höre ich einen jungen Ukrainer in seiner Landessprache rufen: "Ehre der Ukraine!"

Zahlreiche Ukrainer antworten: "Ruhm den Helden!"

Junger Mann: "Ruhm der Nation."

Masse: "Tod den Feinden."

Junger Mann: "Ukraine!"

Masse: "Wichtiger als alles andere." 

Gänsehaut. 

Es ist eine entspannte Nacht, kein Luftalarm in Kyiv. Selten war ich so dankbar für so wenig: Einfach mal eine Nacht durchschlafen können.

Dienstag, 03. Januar 2023 - Kyiv 

Denkmäler werden mit Sandsäcken vor Zerstörungen geschützt.

Am Abend Treffen mit einigen Ukrainern in einem georgischen Restaurant. Fabelhaftes Essen. Guter Wein. Gespräche über Waffenlieferungen, die Sicht der Deutschen auf den Krieg, die Gefühlswelt der Menschen in Kyiv ("Angriffe Anfangs surreal, mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt"). Doch es geht auch um die schönsten Urlaubsziele, Fashion, gebrochene Herzen, Lieblingsrestaurants. Einen kurzen Moment habe ich da wieder einmal fast vergessen, dass ich in einem Land bin, in dem Krieg ist. Doch die Kellner erinnern mich. Wir müssten gehen. Das Restaurant schließt. Bald beginnt die Ausgangssperre. Ab 23 Uhr ist es verboten, das Haus zu verlassen, bis zum nächsten Morgen, 5 Uhr. Auch die U-Bahnen (Fahrpreis: 0,21 Euro) fahren dann nicht mehr. Meine Bekannten haben Glück, sie erreichen ihre letzte Bahn noch. Ich laufe zum Hotel. (tby)

Morgen geht es im letzten Teil über die Zerstörung in Kyiv, Soldaten-Gräber in Lemberg und ein Kätzchen der Hoffnung.

*Warum Kyiv und nicht Kiew? Wir haben uns bewusst für die englische Schreibweise der Hauptstadt der Ukraine entschieden. Grund: Das hierzulande so geläufige deutsche "Kiew" ist eine Übersetzung des russischen Namens der Stadt, das englische "Kyiv" entspricht einer Übersetzung aus dem Ukrainischen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf KINZIG.NEWS.


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