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Robert Menasse bei seiner Lesung im Fuldaer Stadtschloss - Fotos: Mediennetzwerk Hessen/Ralph Leupolt

FULDA Robert Menasse, Die Erweiterung

Literatur im Stadtschloss: Auf der Suche nach dem goldenen Helm

17.05.23 - Mit "Die Erweiterung" hat Robert Menasse einen Roman geschrieben, der sich so liest, wie Hitchcock sich schaut: eine Räuberpistole, hochgradig unterhaltsam, wild, absurd, komisch, zärtlich und immer wieder voll bitterem Tiefsinn. Ganz nebenbei ist sein Roman auch noch eine Politsatire und Liebeserklärung an Europa.

Menasse flogen die Herzen des Publikums zu

Im leider abermals nicht vollbesetzten Fürstensaal war im lesebegeisterten Publikum eine Klasse des Domgymnasiums mit ihrem Lehrer Christoph Röber, Ingeborg Lubczyks Literaturkreis, der Ehrenringträger der Stadt Fulda Helmut Sorg mit seiner Frau, Alt-OB Dr. Alois Rhiel mit seiner Frau, Parzeller Verlagsleiter Rainer Klitsch und Dr. Wolfgang Hamberger – Alt-OB, Ehrenbürger der Stadt Fulda und Gründer der Reihe "Literatur im Stadtschloss".

Menasse ist ein Europäer, der findet, dass die großartige Idee EU schlecht verwaltet wird. Er will ein Europa der Regionen und lehnt den wiedererstarkenden Nationalismus ab, denn: "Entweder es gibt eine gemeinsame Zukunft, oder es gibt keine Zukunft." Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld fühlte sich bei seiner Begrüßung dem Gast in dieser Einschätzung besonders nah: "Europa kann nur funktionieren, wenn wir verstehen, dass wir ein gemeinsamer Kulturraum sind." Und freute sich, dass Menasse Europa als literarisches Thema gewählt hatte und so zu einer ganz eigenen Auseinandersetzung mit Europa auffordere. In einem Interview mit der SZ hat Menasse es so formuliert: "Ich will Europa erzählen können. Die Abgründe, all den Wahnsinn, das Beglückende, das Großartige der Idee, die niederschmetternde Blödheit mancher Repräsentanten." (SZ, 14.10.2022)

Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld

Der Helm des Skanderbeg – zu sehen in der Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums ...Foto: Zenit/Wikipedia

Gelernt beim Großmeister der Spannung

Menasse weiß, dass eine gute Autorenlesung wie ein guter Filmtrailer funktioniert und Lust auf mehr macht. Er ist ein begnadeter Erzähler, der sich Hitchcocks MacGuffin-Kniff zu eigen gemacht hat. Der Gegenstand an sich ist wenig bedeutungsvoll, vor allem geht es um die Jäger-Beute-Konstellation, die meist mehrere Besitzerwechsel sowie viele Flucht- und Verfolgungsszenen nach sich zieht. Menasses MacGuffin ist der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg, der in der Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien (KHM) zu sehen ist. Ein ungewöhnlicher Helm, denn wie viele Heldenhelme werden schon von einem gehörnten Ziegenbock gekrönt?

Vielleicht kennen Sie weder den Helden noch den zugehörigen Helm? Damit sind Sie in guter Gesellschaft. Und doch gab es eine Zeit, in der in fast jeder Stadt ein Denkmal für diesen Verteidiger des Abendlandes stand. Der Papst verlieh ihm den Titel "Athleta Christi Skanderbeg", und Vivaldi widmete ihm 1718 eine Oper. Skanderbeg geriet im Europa der aufblühenden Nationalstaaten bald in Vergessenheit, nicht aber in Albanien, denn er hatte

den albanischen Stämmen als erster eine gemeinsame Identität gegeben. Menasse wählte den Prolog, der Skanderbeg in seiner europäischen Dimension vorstellt, als Auftakt seiner Lesung (S. 7 f.).

Die Lunte am Balkan

Albanien will in die EU und erfüllt vorbildlich alle Forderungen seitens der EU. Menasse verkniff sich den Seitenhieb nicht, dass es schon seltsam sei, wenn Anwärterstaaten europäisches Recht einführen und befolgen, Mitgliedsstaaten hingegen europäisches Recht mit Füßen träten. Obwohl Albanien ein nahezu perfekter Anwärter ist, legt Frankreich Veto ein und verhindert die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. In Tirana ist man schwer verstimmt, ganz besonders der ZK, der albanische Ministerpräsident. Menasse las die Szene, wie der ZK stellvertretend für den französischen Ministerpräsidenten eine französische Starjournalistin zerlegt (S. 54 f.). Ein Kammerstück – bei dem einem das Lachen oft genug im Halse stecken bleibt.

Im Think Tank des ZK arbeiten diverse Künstler, unter ihnen der Lyriker Fate Vasa. Der kommt drauf, wie man den Beitritt doch noch erzwingen kann: "Wenn den Europäern Albanien heute zu klein ist, um es ernst zu nehmen, dann musst du sozusagen Skanderbegs Schwert zücken, symbolisch, verstehst du, als Gestus: Großalbanien! Die Deutschen durften sich vereinigen, und wir sollen es nicht dürfen? Mit den Albanern im Kosovo und den Albanern in Mazedonien… Wir stellen diesen Anspruch – und was wird passieren? Kann die EU das wollen? Eine neue Lunte am Pulverfass Balkan? Sie wird blitzschnell doch bereit sein, Zugeständnisse zu machen und Beitrittsgespräche mit uns aufzunehmen."

Die Geschichte wird mit jeder Seite bizarrer und verwickelter. Um nämlich symbolisch Skanderbegs Schwert zu zücken, braucht man erst mal Skanderbegs Helm. Wenn der Ministerpräsident sich damit krönt, wäre das die gesuchte symbolische Geste – für alle Albanier, egal wo sie leben. Fate Vasa empfiehlt, den Helm zurückzufordern, was vom KHM schmallippig zurückgewiesen wird – man könne nicht zurückgeben, was nie in albanischem Besitz war. Fakten behindern die Symbolik, weswegen Tirana sich genötigt sieht, den Helm zu stehlen. Als er den Helm hat, muss der albanische ZK allerdings ein weiteres Problem lösen: Skanderbegs Helm passt ihm nicht, der Kopf des Volkshelden war deutlich kleiner. Fate Vasa findet auch für dieses Problem eine Lösung, immerhin geht es um Albaniens Beitritt zur EU.

Sich kreuzende Handlungsstränge und Gegenhandlungen

Menasse wäre nicht Menasse, wenn es bei dieser Haupthandlung bliebe. Einer der schönsten Nebenstränge ist die aufblühende Liebesgeschichte zwischen dem ältlichen Österreicher und EU-Juristen Karl Auer und der Vorsitzenden des albanischen Justizreformausschusses, Baia Muniq Kongoli. Die heißt so, weil ihr Vater Hardcore-Fan des FC Bayern war und die Tochter nach seinem Lieblingsverein benannte. Der albanische Beamte war des Deutschen nicht mächtig und albanisierte den Namen daher.

Genauso bewegend ist die gegenläufige Geschichte zweier polnischer Freunde, die als Blutsbrüder im Dunstkreis der Solidarnosc für die Revolution kämpften, dann aber

unterschiedliche Wege gingen. Der eine machte national, der andere international Karriere. Mateusz wird zum fundamentalistischen Ministerpräsidenten und Zyniker, der nur Verachtung für die Demokratie übrig hat. Adam Prawdower geht nach Brüssel, ein Moralist alter Schule, der den alten Idealen und der verlorenen Jugendfreundschaft hinterher trauert. Menasse las einen Schlagabtausch zwischen beiden Männern, der vor allem ein Kampf der Systeme und Wertvorstellungen ist (S. 74 f.).

"Und hatten die Pest an Bord…"

Wie sich diese Geschichte in all ihren grotesken Wendungen und ihrem Mix aus Fakten und Fiktion bis hin zum Finale auf der Jungfernfahrt des Kreuzschiffes SS Skanderbeg entfaltet, ist ein einziges Lesevergnügen. An Bord des Schiffes Europas Polit-Elite, und natürlich auch der Helm, leider aber auch ein hochansteckendes Virus. Das versetzt alle an Bord in die Lage, in der normalerweise Flüchtlinge sind: Die Situation ist lebensbedrohlich, aber nirgends wird Landeerlaubnis erteilt. Manchmal reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, ob nun der Roman eine absurde Geschichte erzählt oder die europäische Realität mehr Absurditäten aufbietet, als man ertragen kann.

Und – liebe Fuldaerinnen und Fuldaer: Fulda kommt auch vor. Fast jedenfalls. Wäre jener Leser der ‚Kronenzeitung‘ nur von der richtigen Prämisse im Kreuzworträtsel ausgegangen (der Autor heißt Dostojewski). Mit Raskolnikow aber wird Tango zur Polka, Simmel zu Kishon, Ali zu Udo, der gesuchte römisch-deutsche Herrscher mutiert vom Ludwig zum Konrad und aus der Fulda wird die Donau (S. 356 f.) – "alles, was falsch war, schien logisch, alles." Mit großem Beifall bedankte sich das Publikum für einen äußerst vergnüglichen und anregenden Literaturabend. (Jutta Hamberger) +++


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