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Jens Brehl im Gespräch mit osthessen-news-Mitarbeiterin Carla Ihle-Becker. Rechts Kameramann Sascha Poldrack. - Fotos: Hans-Hubertus Braune

10.03.11 - REGION

Nach einer aktuellen Studie der Krankenkassen steigt die Zahl der Burnout-Patienten in Hessen rasant. Allein zwischen 2007 und 2009 nahm die Zahl der Betroffenen um 41 Prozent zu - der Anteil der weiblichen Patienten stieg sogar um 46 Prozent. Das Gefühl, komplett ausgebrannt zu sein, resuliert vornehmlich aus Leistungsdruck im Job, Problemen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen bis hin zu Freizeitsstress. Einer, der ganz genau weiß, wie sich das Ausgebranntsein anfühlt, ist der 30-jährige Journalist Jens Brehl, der hier seinen "Weg durch die Hölle und zurück" beschreibt.

Immer schneller, immer höher und immer weiter sind die Maximen unserer Leistungsgesellschaft. Der Mensch bleibt dabei viel zu oft auf der Strecke: Wer nicht mithalten kann, wird schnell aussortiert. Burnout mit oder ohne depressive Phase ist vielfach das Ergebnis. Die Erkrankung zieht sich längst durch sämtliche gesellschaftliche Schichten und Altersklassen. Der Fuldaer Journalist Jens Brehl erzählt von seinen Zusammenbruch und seinem Weg zurück ins Leben. Wo Altes endet ist Platz für Neues, weiß der Dreißigjährige heute. Er hat den Teufelskreis von Leistungsdruck und Erschöpfung durchbrochen.

"Die relative Stille des Schlossparks umgibt mich. Es ist kalt, obwohl die Sonne scheint: Allmählich wird der Winter in die Defensive gedrängt. Der Himmel leuchtet strahlend blau. Das Grau der vergangenen Tage existiert lediglich als vage Erinnerung. Der Gedanke an die Trübe und den alles einnehmenden Grauschleier ist angesichts des Sonnenscheins unwirklich. Ebenso unwirklich erscheint mir mein Lebensabschnitt, den meine Burnout-Erfahrung geprägt hat. Ende 2008 erkrankte ich schwer an einem depressiven Erschöpfungssyndrom, umgangssprachlich „Burnout“ genannt. Ich konnte nicht ahnen, wo mich mein Weg hinführen sollte. Hätte ich es gewusst, wäre ich durchaus zuversichtlicher gewesen. Doch an einem denkwürdigen Tag im Dezember 2008 schien mein Leben von einer Sekunde auf die andere vorbei zu sein.

Ein schleichender Prozess

Bereits seit Wochen fühlte ich mich ausgelaugt und die Freude an meiner Arbeit hatte ich an irgendeinem Punkt verloren – obwohl ich als freier Journalist meinen Traumberuf ausübte. Zusätzlich war ich in der Pressearbeit für Unternehmen tätig. Mein Auftragsbuch quoll über und ich war so erfolgreich wie nie zuvor. Die Kehrseite der Medaille war, dass meine Arbeitszeiten ausuferten und ich mein Privatleben auf ein Minimum reduzieren musste - ein schleichender Prozess begann. Ich wusste wohl, dass ich urlaubsreif war, dennoch arbeitete ich fast rund um die Uhr. Ich fand es schick, müde und ausgelaugt zu sein, denn das verdeutlichte in meinen Augen, wie gefragt meine Dienste sind. Nach und nach verlor mein Leben an Farbe. Zuletzt nahm ich alles nur noch grau wahr. Schaute ich einen lustigen Film, so dachte ich, "Jetzt musst du lachen" - und dennoch verzog ich keine Miene. Es fiel mir immer schwerer mich zu konzentrieren, ich schlief aufgrund von Albträumen schlecht, worunter die Qualität meiner Arbeit stark litt. Mein Selbstbild, zu jedem Zeitpunkt Höchstleistungen abrufen zu können, schmolz wie ein Eis in der Sonne. Schließlich leistete ich mir einen (Anfänger-)Fehler nach dem anderen und bekam Panikattacken, wenn das Telefon klingelte. Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht? Welche Katastrophe erwartet mich? Es kam vor, dass ich den Inhalt eines Gesprächs in der Sekunde vergaß, in der ich den Hörer aufgelegt hatte. Aus Angst Schwäche zu zeigen, wahrte ich den Schein und ignorierte alle körperlichen Warnzeichen. Mit einer Kollegin teilte ich damals einen Großkunden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen solch eine katastrophale Arbeit abzuliefern, schließlich hatte sie den Auftrag für uns beide an Land gezogen. Also Augen zu und durch. Ich quälte mich weiter. Morgens hatte ich kaum die Kraft, in den Tag zu starten und letzten Endes stellte ich mir folgende Frage: Beginne ich mit der Arbeit oder springe ich aus dem Fenster? In keiner der beiden Optionen konnte ich einen Sinn erkennen. Das gab mir endgültig zu denken.

Das Eingeständnis

Winter 2008: Meine Aufgabe war es, einen Pressetext zu schreiben. Reiner Standard, im Grunde simpel. Zuvor hatte ich mich mit meiner Kollegin telefonisch besprochen und ich aktivierte jede verfügbare innere Kraft, um aufmerksam zuzuhören. Darüber hinaus hatte ich den ungefähren Wortlaut bereits im Kopf. Ich saß am Computer, startete das Schreibprogramm. Als hätte jemand einen Stecker gezogen, kamen meine Gedanken und Befehle nicht mehr bei meinen Fingern an. Es war mir unmöglich, das zu tippen, was ich dachte. Auf den Bildschirm erschienen unzusammenhängende Satzfetzen. Eine klare Struktur war nicht zu erkennen. So fühlt es sich also an, den Verstand zu verlieren, schoss mir als einzig „vernünftige“ Erklärung durch den Kopf. Mir war endgültig klar: Ich konnte auf keinen Fall so weitermachen wie bisher.

Anfang Januar 2009 raffte ich allen Mut zusammen und gestand meiner Kollegin in einem persönlichen Gespräch, „am Ende zu sein“. Zu meiner Überraschung erntete ich Verständnis und zum ersten Mal fiel der Begriff Burnout. Das passiert auch anderen Menschen? Ich bin nicht der Einzige? Meine Kollegin rang mir die Zusage ab, einen Arzt aufzusuchen. Leichter gesagt als getan, denn seit Jahren hatte ich keine Praxis mehr von innen gesehen – für so etwas fehlte mir die Zeit. Es war für mich bis dato unvorstellbar gewesen, ernsthaft zu erkranken. Kurz: Ich kannte keinen Mediziner in Fulda, einen Hausarzt hatte ich nicht. Aus den Gelben Seiten wählte ich eine Telefonnummer und landete einen Glückstreffer. Der Doktor nahm sich Zeit für ein ausführliches Gespräch. Die Diagnose: depressives Erschöpfungssyndrom – ich war vollkommen ausgebrannt. Der Mediziner verwies mich an einen Neurologen. Ihm versuchte ich zu verdeutlichen, dass ich so schnell wie möglich wieder einsatzfähig sein müsste.

Ich könnte durchaus so weitermachen wie bisher, meinte damals der Neurologe. Aber spätestens in einem halben Jahr würde er dann meinen ersten Herzinfarkt erwarten. Diese Aussage hatte gesessen und ich gab zu, bereits drei weitere Male in diesem Jahr „kleinere“ Zusammenbrüche in Form von Sinnkrisen und Phasen totaler Erschöpfung erlebt zu haben. Anstatt jedoch innezuhalten, drängte ich meinen Gesundheitszustand beiseite und widmete mich noch vehementer meiner Arbeit. Der Neurologe vereinbarte umgehend einen Aufnahmetermin in einer psychosomatischen Klinik. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte.

Nun hieß es sechs Wochen warten. Der Alltag überforderte mich zusehends und es deprimierte mich, mir die Beweise für meinen Gesundheitszustand selber zu liefern. Benötigte ich drei Dinge aus dem Supermarkt, musste ich sie mir notieren. Merken konnte ich sie mir nicht. Wachte ich morgens mit dem Wissen auf, diese drei Dinge einkaufen zu müssen, war ich unsicher, diese Aufgabe bewältigen zu können. Dennoch wickelte ich einen neuen Auftrag ab. Ich schrieb eine passable Pressemitteilung und verschickte sie am vereinbarten Termin. Woher ich dafür die Kraft nahm, ist mir bis heute schleierhaft.

Schließlich kam der von mir lang ersehnte und dennoch beängstigende Tag: Ich stand vor dem Eingang. Über mir die Letter „Psychosomatische Klinik“. So tief war ich also gesunken. Anfangs fiel es mir sehr schwer mich einzuleben und zur Ruhe zu finden. Ich stand unter Strom, etwas unternehmen zu müssen, obwohl ich selber nicht genau wusste was das sein sollte. Zudem war ich das erste Mal seit langem wieder Teil einer sozialen Gruppe, was mich anfangs ängstigte. Doch nach und nach konnte ich den Kontakt zu meinen Mitpatienten herstellen und es gelang mir auch immer besser, mich mit ihnen auszutauschen. Ich erkannte, dass ich meine Maske ablegen und mich so zeigen konnte, wie ich war.

Die vielen Krankenhausregeln überforderten mich in den ersten Wochen, ich musste mir so viel merken, was für mich zunächst keinen Sinn ergab. Wie die Therapien. Ich bewertete sie als Kindergartenkram. Zunächst war ich auf Abwehr eingestellt, nahm wenig ernst und brach mehr als eine Vorschrift. Mit Geduld und Empathie „knackten“ mich meine Therapeuten. Sie öffneten die Tür zu meinen Gefühlen, meinem wahren Ich. Es lag ganz bei mir diese Chance zu nutzen. Ich erkannte, dass ich meinen Wert anhand meiner Leistungen maß: Je mehr ich arbeitete, desto wertvoller war ich. Ein Irrtum, der mich immer wieder in die Erschöpfung trieb.

Neuanfang in Fulda

Nach sieben Wochen wurde ich Mitte Mai 2009 entlassen. Arbeitsfähig war ich noch nicht, dennoch hatte ich mich in der einschneidenden Zeit in der Klinik deutlich verändert: Ich hatte wieder Mut gefasst. Ich hatte die Auflage bekommen, mich in meinem Heimatort einer Selbsthilfegruppe für (ehemalige) Workaholics anzuschließen und zudem eine Gesprächstherapie zu beginnen. Eine Selbsthilfegruppe konnte ich nicht finden, aber wenigstens gab es in Fulda eine große Auswahl an Psychotherapeuten. Ich war unsicher, welche Vorteile eine Gesprächstherapie bringen würde, dennoch gefiel mir der Gedanke an eine Art Kontrollfunktion. Ungern wollte ich in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Meine in der Klinik gewonnene Zuversicht drohte jedoch nach meinen ersten Anrufen bei örtlichen Psychotherapeuten dahinzuschmelzen. Es wurde mir mitunter unwirsch mitgeteilt, dass man schon lange keine neuen Patienten mehr annimmt. Anscheinend wunderte man sich, warum ich dies nicht wusste. Ich bekam das Gefühl vermittelt, mit meinem Anruf zu stören. Zudem könne man mir nicht sagen, welche Praxis offen für neue Patienten wäre. Ich versuchte mein Glück weiter und tatsächlich, es wurde mir ein Termin angeboten: Mai 2010 -man mutete mir eine Wartezeit von einem Jahr zu. Als ich es bei allen Praxen versucht hatte, gab ich auf. Anscheinend war ich auf mich alleine gestellt. Im Krankenhaus hatte ich gelernt, dass es ein Irrglaube ist, immer alles alleine bewältigen zu müssen. Darüber hinaus verstand ich, dass es keine Schwäche darstellt, Hilfe anzunehmen. Doch diese Einsichten nutzten mir in dieser Situation nichts.

Eine Alternative wäre die Psychosomatische Tagesklinik gewesen, die Teil des Fuldaer Klinikums ist. Dazu fühlte ich mich nicht krank genug. Ich wollte mich auf keinen Fall von einem Krankenhausaufenthalt zum nächsten hangeln, sondern mein Leben aktiv neu gestalten. Wenige Tage später erreichte mich der erlösende Anruf meiner späteren Therapeutin. Ein Patient hätte seine Therapie abgebrochen und ich könne seinen Platz übernehmen. Ein zweifelhaftes Glück, aber ich nahm das Angebot dankend an. Über Monate saß ich nun einmal in der Woche meiner Therapeutin gegenüber; später wurden die Abstände größer. Wir besprachen, was mich jeweils aktuell beschäftigte.

Insgesamt benötigte ich noch ein Jahr, um mich zu festigen. Es gab Höhen und Tiefen. Manchmal drohte ich zu verzweifeln. Es kann durchaus unangenehm sein, an sich zu arbeiten. Besonders, wenn man dabei unbequeme Wahrheiten ans Tageslicht befördert. Viel leichter ist es, sich abzulenken oder mit Alkohol / Drogen / Medikamenten zu betäuben. Ich beantwortete mir die Fragen, wer ich bin, welche Fähigkeiten ich habe und was ich tun möchte. Als mich ein Bekannter nach meiner Krankengeschichte fragte, fasste ich die Antwort in wenigen Worten zusammen: Einmal durch die Hölle und zurück. Ein Weg, der sich gelohnt hat: er hat mich gestärkt. Ich bin dankbar für die schwächsten Momente meines Lebens. Damals glaubte ich alles verloren zu haben. Heute weiß ich, dass ich alles gewonnen habe. Mein Selbstkontakt ist stärker als jemals zuvor. Ich spüre deutlich, was mir schadet und was mir gut tut. Nun kann ich offen kommunizieren, Grenzen ziehen und meine Kreativität wieder mit Freude in meinem Beruf ausleben.

Heute

Einige weitere Minuten genieße ich das herrliche Wetter im Schlosspark. Obwohl die Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmen, beginne ich zu frieren. Ich beende eine meiner vielen Rückschauen; es ist sicherlicht nicht die letzte. Für meine zweite Chance bin ich so dankbar, dass es dafür keine Worte gibt. Ich bin froh, dass ich meine Krankheit ohne Medikamente hinter mir lassen konnte. Natürlich war mein Weg unbequem. Er konfrontierte mich mit Wahrheiten, die ich lange Zeit verdrängt hatte. Aber geht es nicht beim Burnout darum innezuhalten und die Krankheit als Weg zu sehen? Als Chance zur Erneuerung? (Jens Brehl)+++



Sein Blick ging ins Unklare: Jens Brehl.


Licht nach trüben Tagen...

Gespräch im Fuldaer Schlosspark...


...Stress, Angst, Hilfslosigkeit machten einsam...


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