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Hersfeldpreisträgerin Marie-Anjes LUMPP: Musical "Das Wunder von Bern"
09.11.15 - Energiegeladen, packend und zutiefst berührend! „Das Wunder von Bern“ erzählt vor dem Hintergrund der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte. Es geht um eine Familie, die sich findet, eine Mannschaft, die über sich hinauswächst, und einen kleinen Jungen mit großen Träumen. Die Schauspielerin und Sängerin Marie-Anjes Lumpp spielte bis zu ihrem letzten Auftritt am 30.09.2015 rund 300 Mal die „Heimkehrertochter“ Ingrid Lubanski. Die 28-Jährige nahm sich viel Zeit, um mit ihren persönlichen Eindrücken und voller Herzblut die Reisegruppe aus Osthessen auf ihren Besuch des Musicals einzustimmen. Am 29. November 2015 geht es für die O|N-Leser auf große Reise nach Hamburg: Infos zur Reise und Buchungsmöglichkeiten gibt es hier: hier klicken
ON: Was haben sie von Ingrid gelernt? Haben sie sich sehr mit der Rolle identifiziert?
Marie-Anjes Lumpp: Das Besondere war natürlich, dass ich von Beginn an eine Rolle verkörpern durfte, die es so bisher nicht gab – zumindest nicht auf der Bühne. Überhaupt habe ich das Glück gehabt, die ganze Entstehung des Stücks hautnah mitzuerleben und eben auch mitzuprägen. Ich würde sagen, dass ich mich mehr noch mit dem Stück identifiziert habe als mit der Rolle. Ich habe viel über die Zeit gelesen, recherchiert, Frauen interviewt, die damals Kinder waren. Ich habe versucht, mich rein zu fühlen in ein junges Mädchen in den 50er Jahren, das zunächst in einer völlig anderen Lebenssituation steckt, ganz andere Werte und Bedürfnisse hat. Letztendlich habe ich den Satz „Ich will doch nur leben“ aber unheimlich gut nachvollziehen können. Ausbrechen wollen, sich leicht und frei zu fühlen in Zeiten, in denen man nur funktionieren musste und fremdbestimmt war.
ON: Gibt es für sie einen persönlichen Lieblingssong im Musical?
Marie-Anjes Lumpp: Mein Lieblingssong ist „Immer nur gehorchen“ von Bruder Bruno. Er wird im Kontrast zur eigentlichen Jugendgeneration, die vor allem nach vorn blicken wollte, als Rebell, sogar Kommunist dargestellt und nimmt mit seiner Haltung im Grunde die der 68er-Generation vorweg. Er kritisiert die Ideologie der Nazis und sieht ähnliche Regime aufkommen, wenn die Menschen nunmehr an übernommenen Werten hängen und sich keine eigene Meinung mehr bilden. Die Aussage ist so stark, so politisch und mutig für kommerzielles Musicaltheater.
Das Musical spielt im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit: Der neunjährige Matthias lebt mit seinen älteren Geschwistern sowie der Mutter Christa in Essen. Der Vater Richard ist noch immer in Kriegsgefangenschaft. Das tägliche Leben ist hart und zunächst kämpft jeder allein für sich und seine Träume. Matthias schwärmt für Nationalspieler Helmut Rahn und wünscht sich nichts sehnlicher, als seinen Freund und Idol zur WM zu begleiten. Doch als der Vater nach zehn Jahren heimkehrt, ist nichts mehr, wie es einmal war.
ON:
Marie-Anjes Lumpp: Familie ist mir sehr wichtig. Die Familie ist irgendwie ein ganz komplexes und schwieriges Gebilde. Wenn sie unterstützt statt zu verbiegen und Eltern bedingungslos Liebe geben, ist sie wunderbar. Vor allem in meinem Beruf ist es so wichtig, Familie zu haben. Man sieht sie selten, aber weiß, sie ist immer da. Viel mehr als Karriere zu machen wünsche ich mir, irgendwann meine eigene Familie, denn das ist doch das, was einem nach dem Ruhm und der Selbstverwirklichung am Ende bleibt.
ON: Das Musical spiegelt den Zeitgeist der frühen 50er-Jahre, Aufbruchstimmung und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Überträgt sich das auf die Menschen im Publikum, die als Kinder, Jugendliche und Erwachsene hautnah dabei waren und auch auf die, die diese aufregende Zeit nur aus Erzählungen kennen?
Marie-Anjes Lumpp: Auf jeden Fall. Das ist eben das Tolle am „Wunder von Bern“, dass jeder etwas damit anfangen kann und – ob er will oder nicht – irgendwo in seiner Emotionalität gepackt wird. Ein Stück unserer Geschichte. Die Generation, die damals Erwachsene waren, also den Weltkrieg hautnah miterlebt und in den Nachkriegsjahren die Trümmer aufgelesen haben, sind die letzten Zeitzeugen. Sie fühlen sich natürlich ganz besonders stark zurückversetzt in diese Zeit.
ON: Was gibt das Musical dem Publikum mit auf den Weg?
Marie-Anjes Lumpp: „Das Wunder von Bern“ fordert vom Publikum schon ein, die Rolle der Deutschen im zweiten Weltkrieg (erneut) zu hinterfragen, aber zeigt auch, wie man eine neue Identität geschaffen hat und weiter schaffen kann. Vor allem aber entlässt „Das Wunder von Bern“ seine Besucher in erster Linie sehr bewegt und gerührt. Ich denke, dass sich viele Leute nicht nur mit ihrer Geschichte, sondern auch mit ihren eigenen Familienverhältnissen konfrontiert sehen. Wie streng waren die eigenen Eltern? Vielleicht konnten sie nicht anders? Nach welchen Werten wurde man erzogen und welche sind wirklich wichtig. Im besten Falle versteht man, dass es wichtig ist, in jeder Lebenslage Verständnis für seine Mitmenschen aufzubringen, zu vergeben und für die Liebe zu kämpfen. Neben der ganzen Dramatik hat man nach drei Stunden aber auch viele Male herzhaft gelacht, ein detailliertes Wissen über die Weltmeisterschaft 1954 erlangt und war durchgängig gut unterhalten.
ON: Ein Musical, in dem auch Männer weinen. Spricht es besonders die Gefühlswelt der Männer an?
Marie-Anjes Lumpp: Es stimmt tatsächlich, dass viele Männer weinen. Wir haben hinter der Bühne mehrere Monitore, um den Dirigenten zu sehen und hinter ihm erkennt man auch die Zuschauer in der ersten Reihe. Wenn da 80-jährige Männer sitzen und weinen, dann hat mich das selbst jedes Mal überwältigt. Die Vater-Sohn-Beziehung steht schon sehr im Focus des Stückes und ich denke, dass sich deshalb viele Männer damit verbinden können. Wie vielen Jungs wurde zur damaligen Zeit genau wie dem kleinen Matthias vermittelt: „Ein deutscher Junge weint nicht!“ Ich denke, auch aufgrund der Kriegsthematik und dem historischen Fußballsieg kommen viele persönliche Erinnerungen hoch.
ON: Sie haben in diesem Musical mit Theater- und Filmregisseur Gil Mehmert zusammengearbeitet, der in diesem Jahr bei den Bad Hersfelder Festspielen als Regisseur mit „Cabaret“ riesigen Erfolg feierte. Ist eine weitere Zusammenarbeit geplant?
Marie-Anjes Lumpp: O ja. Gil Mehmert hat in den letzten Jahren zahlreiche besondere und erfolgreiche Inszenierungen auf deutsche Bühnen gebracht. Er war während meines Studiums Professor an der Folkwang Universität in Essen und ich hatte das Glück, schon einige Produktionen mit ihm zu machen. Er hat ein unheimliches Gespür für Timing, Tempo und starke Bilder. Mit dem „Wunder von Bern“ finde ich, hat er wirklich eine neue Richtung für das deutsche Musical bereitet – sehr filmisch, sehr ehrlich und direkt. Er ist sehr loyal zu seinen Darstellern, was toll ist – und ich denke, dass wir bestimmt irgendwann wieder ein Projekt zusammen machen werden.
Marie-Anjes Lumpp sorgte ebenfalls für Begeisterungsstürme auf der Festspielbühne. Bei der umjubelten Bad Hersfelder Inszenierung von „Kiss me, Kate“ unter der Regie von Stefan Huber im Jahr 2014 brillierte die charismatische Darstellerin in ihrer Doppelrolle als Lois Lane/Bianca und wurde für ihre herausragende Leistung und ihre Bühnenpräsenz mit dem Hersfeldpreis ausgezeichnet.
ON: Sie setzen auch ihre Zusammenarbeit mit dem Ex-Intendanten Holk Freytag fort. Was schätzen sie an ihm ganz besonders?
Marie-Anjes Lumpp: Schon vor der Solidaritätswelle für Holk Freytag nach seiner skandalösen Absetzung als Intendant 2014, der ich mich mit vollster Überzeugung angeschlossen habe, hatte ich die Ehre und Freude, Holk Freytag als unheimlich großherzigen, gebildeten und engagierten Theatermann kennenzulernen. Als völlig Unerfahrene ließ er mich die Verleihung des „Hersfeldpreises“ moderieren. Holk Freytag ist wirklich für mich zu einem wichtigen Förderer und Unterstützer geworden, ja vielleicht so etwas wie ein väterlicher Mentor, von dem ich viel lernen kann und dem ich dankbar bin. In Holk Freytags Kult gewordenen Inszenierung „A Christmas Carol“ am Staatsschauspiel Dresden darf ich dieses Jahr die Rolle der Belle übernehmen. Für Januar ist ein weiteres Programm geplant, zu dem ich aber noch nicht allzu viel sagen kann.
Neue Projekte zu verwirklichen, noch viele Rollen spielen, um sich schauspielerisch immer weiter zu entwickeln, haben ihre Entscheidung leichter gemacht, den Vertrag für ihre Rolle als Ingrid Lubanski nicht zu verlängern. Für die Festspielfreunde in Bad Hersfeld ein echter Gewinn, denn am 12., 13. und 14. November 2015 jeweils um 20 Uhr gibt es ein Wiedersehen mit Marie Anjes Lumpp im Grebe-Keller. Gemeinsam mit Marie-Therese Futterknecht, Sébastien Jacobi und Holk Freytag stellt sie vierzig Figuren aus der Gedichtsammlung „Spoon River“ des amerikanischen Schriftstellers Edgar Lee Masters in einer szenischen Lesung vor. Diese wird ergänzt durch zahlreiche Lieder von John Dowland, Stephen Foster und anderen, begleitet von Dr. Manuel Schmidtlein am Piano.
ON: Sie haben nun ein Jahr in Hamburg gelebt und gearbeitet. Haben sie einen Geheimtipp für die Reisegruppe aus
Osthessen:
Marie-Anjes Lumpp: Hamburg ist eine wundervolle, lebendige Stadt. Die Pizzeria „Luigis“ im Portugiesenviertel kann ich wärmstens empfehlen. Nach der Vorstellung vom „Wunder“ sind wir da oft hingegangen – die Pizza ist unglaublich gut, die Atmosphäre ausgelassen und die Lage natürlich perfekt nach einem Musicalbesuch im neuen Stage Theater an der Elbe. Ich wünsche den Teilnehmern der Leserreise viel Spaß und einen unvergesslichen Theaterabend beim „Wunder von Bern“. (Gudrun Schmidl) +++