Archiv

FULDA „Scheint uns nicht mehr zu brauchen“

Angst besiegt Idealismus - Bäckerei MICHEL schließt nach 30 Jahren - VIDEO

05.08.16 - Es ist kurz nach halb drei in der Nacht. Die Rollläden der Häuser in Fulda-Bronnzell sind heruntergelassen, sogar die Straßenlaternen sind gedimmt. Einzig ein Gebäude ist hell beleuchtet: die Produktionshalle der Bäckerei Michel in der Bronzeller Straße. Wenn alles schläft, wird hier gearbeitet. Bäcker Joachim Michel und seine zwei Mitarbeiter in der Produktion backen hier für den gerade begonnenen Tag. Bis halb sechs haben sie Zeit, dann müssen die Auslagen des zugehörigen Ladens gefüllt sein, denn um sechs wird geöffnet. Früher warteten dann bereits die ersten Arbeiter und Kunden, um sich ihr Frühstück zu holen. Mit den Jahren ist das aber immer weniger geworden. Zwar gibt es immer noch treue Stammkunden und auch etwas Laufkundschaft, doch viele gehen mittlerweile zum Discounter. Kaufen ihre Brötchen billig und direkt aus dem Backautomaten.

Mag seinen Beruf noch immer: Bäcker Joachim Michel muss nach 30 Jahren seinen Betrieb ...

Warum das so ist, kann sich Bäcker Michel nicht erklären. „Man scheint uns nicht mehr so zu brauchen, wie es früher mal war“, erklärt der 49-Jährige mit Bedauern. Denn so arm, dass er sich bei Michel kein Brot leisten kann, könne keiner sein. Er versteht nicht, dass viele anscheinend an der Qualität ihres Essens sparen.

Hier wird noch ganz traditionell gebacken

Etwa 150 Brote werden in der Produktionshalle der Bäckerei Michel täglich gebacken ...

100.000 Brötchen pro Nacht

Die Großbetriebe produzieren Massenware. Bis zu 100.000 Brötchen und 3.000 Brote gingen da täglich über die Förderbänder. Die Bäckerei Michel produziert Nacht für Nacht etwa 800 Brötchen und 150 Brote, alle in traditioneller Handarbeit und mit viel größerer Auswahl - trotz geringerer Stückzahl. Dabei versucht das Team auf die Kundenwünsche zu reagieren. „Wenn jemand sagt, er möchte am nächsten Tag ein Brot mit Kümmel, dann können wir darauf reagieren“, erklärt Michel. Und doch gibt es immer wieder Kunden, die unzufrieden sind. Es gäbe sogar solche, die in den Laden kommen, fragen, ob ein Brötchen noch warm sei und falls nicht, den Laden sofort wieder verlassen. Für den Bäcker unverständlich. „Ich esse selbst auch meine Brötchen und Brote, zum Beispiel wenn ich abends nochmal grille. Die schmecken auch dann noch wunderbar.“ Zu geringerem Preis bietet er in seiner Filiale daher auch Backwaren vom Vortag an, denn er weiß um die gute Qualität.

Neben sich wandelnden Kundenansprüchen und geringeren Einnahmen bereiten Michel seit Jahren zunehmende gesetzliche Vorgaben Probleme. Sobald eine Kleinigkeit an den Produkten verändert wird, müssen die Listen der Inhaltsstoffe erneuert werden. Kontrollen und Investitionen kosten zusätzlich Zeit und Geld. Sowohl die Mitarbeiter- als auch die Produktionszahlen sind in den letzten Jahren deutlich abgefallen. Die Konsequenz: Nach 30 Jahren schließt Michel zum Jahresende den Familienbetrieb.

Zu dritt stehen die Männer in der Backstube

Wer nun große Trauer bei dem Unternehmer und seiner Lebensgefährtin Martina Münch erwartet, wird überrascht. Beim Paar überwiegt die Erleichterung. „Für mich ist es eine Erlösung. Ich darf zum Ende des Jahres schließen. Irgendwann muss auch mal Schluss sein, niemand kann erwarten, dass ich weitermache, bis es gar nicht mehr geht“, sagt der Bäcker. Seit 15 Jahren waren die beiden nicht im Urlaub, gemeinsame Freizeit gibt es höchstens mal an einem Sonntagnachmittag. Jeden Tag steht Michel von 2:30 bis 8 Uhr in der Backstube, Münch ab 5:30 Uhr im Laden. Arbeit, die sich jedoch leider nicht einmal lohnt. Bis zum bitteren Ende kämpfen, können und wollen die beiden nicht.

Vorbei mit dem Komplettpaket

Für die Stammkunden ist das traurig. Während viele dann eben woanders hingehen, gibt es vor allem viele ältere Kunden, die teils mit Tränen in den Augen bei Martina Münch an der Theke stehen. In ihrem Laden gibt es nicht nur Backwaren, sondern auch alles für den täglichen Küchenbedarf und sogar Lottoannahmestelle und Paketshop – mit der Geschäftsaufgabe fällt das Rundum-Sorglos-Paket weg. „Gerade viele ältere Menschen kommen hierher und können es sich so sparen, den großen Umweg über die Stadt zu machen“, erzählt Münch.

Doch die Treue einiger Stammkunden allein reicht eben nicht aus, um sein Leben zu finanzieren. Und auch nicht das seiner Mitarbeiter. Sie werden, so Michel, in anderen Bäckereien oder gar ganz anderen Berufen unterkommen.

Der Chef selbst mag seinen Beruf noch immer, doch er hat Angst, dass er die Liebe zum Handwerk über all den Belastungen verliert. Bevor das passiert, hört er lieber auf. Backen wird er nach dem 24. Dezember, dem letzten Geschäftstag der Bäckerei, wohl nur noch zu Hause und für seinen privaten Bedarf. Das bedeutet natürlich, dass er im noch kleineren Stil backen muss. Doch ein gutes Brot gehört für Michel und seine Lebensgefährtin auf den Tisch.

Jeden Morgen steht Chefin Martina Münch im Laden

Bei einem Discounter hat Michel laut eigenen Angaben zuletzt als Junge eingekauft. Ein Eis für ein paar Pfennige. Heute möchte er nachvollziehen können, wo sein Essen herkommt – eben so, wie es auch die Kunden seiner Bäckerei immer konnten. Seinen Kühlschrank mit Discounter-Ware füllen, wird er nie, darauf kann man ihn festnageln. So schlecht könne es ihm gar nicht gehen. (Sabrina Ilona Teufel) +++


Über Osthessen News

Kontakt
Impressum

Apps

Osthessen News IOS
Osthessen News Android
Osthessen Blitzer IOS
Osthessen Blitzer Android

Mediadaten

Werbung
IVW Daten


Service

Blitzer / Verkehrsmeldungen Stellenangebote
Gastro
Mittagstisch
Veranstaltungskalender
Wetter Vorhersage

Social Media

Facebook
Twitter
Instagram

Nachrichten aus

Fulda
Hersfeld Rotenburg
Main Kinzig
Vogelsberg
Rhön