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Stefan Zimmermann übergibt sein Schreiben an MdB Michael Brand -

FULDA Einschränkungen statt Teilhabe?

Menschen mit Handicap diskutieren mit MdB KÖMPEL und BRAND

16.09.16 - Wenn schon gestandenen Bundestagsabgeordnete zugeben, dass der Entwurf zum Bundesteilhabegesetz äußerst komplex und schwer zu durchschauen ist, was sollen dann eigentlich diejenigen dazu sagen, für die es gemacht wird: Menschen mit Behinderung? Zu zeigen, welche Auswirkungen die auf ganzen 382 Seiten gefasste Gesetzesnovelle konkret haben kann, hatte sich am Donnerstagvormittag das Netzwerk antonius vorgenommen und dazu die beiden heimischen Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel (SPD) und Michael Brand (CDU) in die Festscheune eingeladen. An drei "lebendigen Beispielen" wurde allen Anwesenden deutlich, in welcher Weise die Betroffenen von den Auswirkungen des Gesetzes tangiert sind. "Da muss noch einiges nachgebessert werden", war dann auch der einhellige Tenor der Bundestagsabgeordneten.

Volles Auditorium in der Festscheune

Diskutanten und Moderator: Hanno Henkel, Tanja Preis, Michael Brand, Claudia Dechert ...

Fotos: Erich Gutberlet

Ex-OB und Vorsitzender der Antoniusstiftung Gerhard Möller

Peter Zimmermann schildert seine Situation

Stefan Zimmermann (53)  kam vor 37 Jahren ins Antoniusheim und wohnt in der Wohngruppe Maria. "Ich arbeite hier im Garten, halte gerne Schwätzchen und bin viel unterwegs", stellte er sich den Zuhörern vor. Seine Befürchtung: durch die Gesetzesänderung würde seine finazielle Situation so einschränken, dass er ins Alters- oder Pflegeheim müsste. Er möchte aber unbedingt weiter im Netzwerk wohnen und dessen vielfältige Hilfestellungen in Anspruch nehmen können. Das neue Gesetz splittet in Pflegebedarf und Grundsicherung und kann damit nicht alle bisherigen Leistungen abdecken.

Auch Kai Heimann fürchtet Einschränkungen

Der 26-jährige Kai Heinemann ist so selbständig, dass er 36 Stunden in der Woche in einem Altenheim arbeitet - allerdings zu einem sehr niedrigen Stundensatz weit unter dem Mindestlohn. Kai reist gern und hat einen ganz speziellen Wunschtraum: er möchte unbedingt nach New York. Was das mit dem Teilhabegesetz zu tun hat? Viel, denn durch sein geringes Einkommen kann Kai einerseits nur wenig ansparen, darf aber andererseits auch keine großen Rücklagen bilden, denn das Gesetz deckelt künftig die Vermögensobergrenze. Das bedeutet ein echtes Dilemma für Menschen mit geistiger Behinderung. Brand und Kömpel waren sich auch hier einig darin, dass diese Regelung konkrete Einschränkungen bedeuten würde. Das Recht auf ein Sparguthaben bedeutet Unabhängigkeit - auch und gerade für gehandicapte Menschen.

Lea Hörl wohnt selbständig im inklusiven Gartenhaus

"Wer will schon ins Pflegeheim?" Das fragt sich die 23-jährige Lea Hörl, die auf dem Antonius-Hof bei den Kälbern arbeitet und ganz selbstständig in einer eigenen Wohnung im "Gartenhaus" wohnt - einer inklusiven Anlage für Behinderte und "Normale". Sie hat einen Mietvertrag mit dem Antoniusheim, bekommt Leistungen zur Pflege und Eingliederungshilfe. Das neue Teilhabegesetz würde auch für Lea finanzielle Einbußen bedeuten. Sie könnte sich die Pflegeleistungen, die sie bisher in Anspruch nimmt, nicht mehr leisten. 

Tatsächlich drohe künftig ein "Verschiebebahnhof"zwischen Eingliederungshilfe und Pflegegeld, wenn der Gesetzesentwurf unmodifiziert umgesetzt würde, waren sich die Abgeordneten mit den Netzwerk-Experten einig. "Dieser Punkt muss geändet werden. Denn das Zusammenwohnen von Menschen mit und ohne Behinderung sei ohne Zweifel Inklusion in Reinkultur und müsse gefördert und ausgebaut statt beschnitten werden.

Auch Gerhard Möller ist als Vorsitzender der Antonius-Stiftung mit den Tücken der Novelle befasst. Bei den verschiedenen Trägern sei das Projekt äußerst kompliziert und die Systemumstellung bedeute zwangsläufig, dass es Brüche und Lücken geben werde. Birgit Kömpel tröstete die Teilnehmer der Diskussionsrunde mit dem "Struckschen Gesetz", das besage: "Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde". Bessermachen ist angesagt. /ci

Der Brief von Stefan Zimmermann, den er Birgit Kömpel und Michael Brand mit nach Berlin gegeben hat, hier im WORTLAUT:

"Guten Tag!
Mein Name ist Stefan Zimmermann. Ich bin 53 Jahre alt und komme ursprünglich aus einem kleinen Dorf mitten in der Rhön. Im August 1979, also vor über 30 Jahren bin ich in das damalige Antoniusheim eingezogen. Meine Mama konnte nach dem Tod meines Papas und meines Bruders leider nicht die finanziellen Mittel aufbringen, mich zuhause zu behalten. Damals war es auch leider immer noch so, wenn man anders war, dann wurde man ins Heim gegeben. Bei mir war es anders, ich habe selbst die Entscheidung getroffen, nach Fulda zu ziehen. Mein Heimaufenthalt war also schon Inklusiv gewählt.

Ich arbeite seit über 20 Jahren in der Gartengestaltung und mache, je nach Saison, die verschiedensten Obst und Gemüsesorten für den Verkauf bereit oder säe neue Sorten aus. Ich bin integriert in meine Arbeit und gehe gerne dorthin. Das Netzwerk bietet mir viele Möglichkeiten, unabhängig von meiner Wohngemeinschaft Angebote zu nutzen oder Festlichkeiten und Feiern zu besuchen. Durch unseren Laden und das Café kann ich vielfältige regionale und überregionale Spezialitäten selbstständig kaufen und genießen. Diese Freiheit ist mir sehr wichtig. Seit 4 Jahren habe ich einen elektrischen Rollstuhl, der mir noch mehr Freiheit und Unabhängigkeit bietet. Ich suche mir bei Bedarf meine Assistenz selbst.

Ich bin mit meiner Rhöner Heimat nach wie vor eng verbunden und liebe die Traditionen der Region, wie das Biosphärenreserverat Rhön, Kirmesfeiern und die Spezialitäten wie Bauernwurst und Klosterbier. Auch in Fulda bin ich gerne in den umliegenden Biergärten, auf dem Weihnachtsmarkt oder im Dom unterwegs. Meine Begleiter der Wohngemeinschaft sowie Freunde und Therapeuten unterstützen mich dabei, ein selbständiges und vor allem selbstbestimmtes Leben zu leben.

Vor kurzem bekam ich Informationen über das neue Bundesteilhabegesetz und erklärte mich gerne bereit, meinen Standpunkt hierzu zu äußern, diesen Brief schrieb ich mit meiner Begleiterin zusammen, da ich nicht selbst Schreiben kann. Für mich würde das neue Gesetz eine erhebliche Einschränkung bringen, ich bin besonders gut informiert was den inklusiven Gedanken angeht und habe mein Leben vor langer Zeit selbst in die Hand genommen und fühle mich durch die Einrichtung Antonius Netzwerk Mensch besonders gut unterstützt.

Nun habe ich das Gefühl, das ich zwar selbst bestimmen kann, wohin mich mein Lebensweg führen soll, mir aber die finanziellen Mittel fehlen. Die wirtschaftlichen Folgen durch dieses Gesetz behindern mich vermutlich erheblich, mein Leben selbst zu gestalten. Dies stellt für mich eine Verschlechterung dar. Meine Behinderung ist zuvorderst körperlich und ich müsste aus finanziellen und wirtschaftlichen Gründen in ein Pflegeheim und oder Altersheim. Dies ist nicht in meinem Sinne und ich fühle mich damit unter Druck gesetzt. Das gefällt mir nicht und ich möchte es auch nicht. Mein Wunsch und unbedingter Wille ist es, dass ich weiterhin im Netzwerk leben kann und es mir möglich gemacht wird, hier mein Leben und meine Arbeit weiter zu führen und meine Wohnform nicht zu verlassen.

Sehr geehrte Frau Kömpel ,
Sehr geehrter Herr Brand,
ich bitte Sie hiermit, meinen Wunsch mit nach Berlin zu nehmen und den Entscheidungsträgern anhand meines Lebensentwurfes zu verdeutlichen, was es bedeutet wenn dieses Gesetz so verabschiedet wird. Einen Einschnitt in mein selbstbestimmtes Leben. Ein finanzielles Problem. Ein Eingriff in meine Privatsphäre und einen Rückschritt der Inklusion. Außerdem befürchte ich, dass ich alle Unternehmungen nicht mehr machen könnte, da es im Pflegeheim und oder Altersheim keine entsprechenden Angebote bekommen könnte. Ich bedanke mich herzlich und grüße Sie
Stefan Zimmermann
Wohngemeinschaft Maria
Antonius Netzwerk Mensch"+++


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