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Tabuthema Altersarmut: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel
21.07.17 - Schon bevor sie den Supermarkt betritt, überlegt die Seniorin, welche Lebensmittel sie noch kaufen kann. Eine Tütensuppe und vielleicht ein paar Kartoffeln? Sie rechnet, ist angespannt, als sie den Laden betritt. Sie entscheidet sich für zwei Äpfel und einen Laib Brot. Als sie an der Kasse steht, passiert das Unfassbare: Das Geld reicht nicht. Beschämt stammelt die Rentnerin eine Entschuldigung und lässt alle Sachen zurück.
Was klingt wie aus einem schlechten Film geschieht allerdings, auch in unserer Region, immer häufiger. Gerade am Monatsende fehlt vielen Rentnern das Geld für die einfachsten Dinge. Aus Scham folgt soziale Ausgrenzung bis hin zur völligen Vereinsamung.
Sie können die Miete nicht bezahlen oder das kleine Eigenheim nicht länger halten: Immer mehr Rentner sind von Altersarmut betroffen. Die Tendenz ist steigend. Es ist eine beunruhigende Entwicklung, die sich seit ein paar Jahren abzeichnet. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung steigt das Risiko, später von Altersarmut betroffen zu sein, weiter an. Jeder fünfte Rentner könnte demnach bereits im Jahr 2036 als armutsgefährdet eingestuft werden.
Niedrige Löhne, Minijobs, lange Phasen der Arbeitslosigkeit oder lange Erziehungszeiten können Gründe dafür sein, dass die Rente später nicht zum Leben reicht. Wessen monatliches Nettoeinkommen unter 958 Euro liegt, gilt als armutsgefährdet. Frauen, so besagt die Studie, seien wesentlich häufiger davon betroffen, als Männer.
Laut Deutscher Rentenversicherung erhält ein Rentner, der im Landkreis Fulda lebt, durchschnittlich 790,10 Euro. Männer bekommen rund 1109,39 Euro, Frauen hingegen nur 545,64 Euro. In den anderen osthessischen Landkreisen Main-Kinzig-Kreis, Hersfeld-Rotenburg und Vogelsbergkreis ist der Betrag der durchschnittlichen Rente geringfügig höher. Ohne zusätzliche Einnahmen wie beispielsweise aus privater Altersvorsorge, lägen also alle durchschnittlichen osthessischen Rentner unter der Armutsgrenze.
„Ich schenke Ihnen mein Haus, wenn Sie sich später um mich kümmern.“
Aber nicht nur ein geringes monatliches Einkommen treibt einige Rentner an den Rand ihrer Existenz. Seit jeher ist das kleine Haus, welches im ländlichen Raum gelegen ist, im Familienbesitz. Seit Jahren aber kann der ältere Mann, der hier alleine lebt, die Unterhaltskosten nicht mehr aufbringen. Das Eigenheim verwahrlost zusehends, wie er die nächste Heizölrechnung begleichen soll, weiß der 76-Jährige nicht. Das Haus, so sagt er, sei mittlerweile zum echten Fluch geworden. Könnte er in einem Ein-Zimmer-Appartement wohnen, würde die kleine Rente reichen.
Scham, dem finanziellen Druck nicht mehr gewachsen zu sein, hält viele Rentner davon ab, sich Hilfe zu suchen. Andere haben Angst davor, das Eigenheim im Rentenalter noch zu verlieren. Aber genau das passiert in einigen Fällen: Das Haus landet unter dem sprichwörtlichen Hammer in der Zwangsversteigerung.
Bei den hiesigen Schuldnerberatungen seien mittlerweile rund 10 Prozent der Klienten über 65 Jahre alt, teilt die Schuldnerberatung Fulda Schuldner & Insolvenzberatung auf unsere Nachfrage mit.
„Diese Leute können nichts für ihre Verschuldung, es ist das System, das falsch läuft“
„Große Geschäfte werben immer öfter mit Null-Prozent Aktionen, von vielen Banken erhält man wöchentlich einen Brief über Kreditangebote“, erzählt ein Mitarbeiter der Schuldnerberatung. Wirklich danach schauen, ob die Leute die Raten überhaupt bezahlen könnten, würden allerdings die wenigsten dieser Anbieter. „Und es sind naturgemäß die Leute, die sowieso über wenig Einkommen verfügen, die sich für eine Finanzierung oder einen solchen Kredit entscheiden.“ Erst wenn gar nichts mehr geht, so sagt der Schuldnerberater, kämen die Leute schließlich zur Beratung. „Es sind die Banken, die die Leute in den Ruin treiben.“
Im Landkreis Fulda lebten Ende 2014 insgesamt 2.132 Rentner, die zusätzlich zur gesetzlichen Rente Grundsicherung im Alter (ähnlich der Sozialhilfe) erhielten. Im Vogelsbergkreis waren es 1.092 Personen, Hersfeld-Rotenburg zählte 1.244 Leistungsbezieher und im Main-Kinzig-Kreis waren es 4.403. Bundesweit hat sich die Zahl derer, die Grundsicherung beziehen, alleine in den letzten zehn Jahren um fast die Hälfte gesteigert. Ohne durchgreifende Reform des Rentensystems wird die Altersarmut in Deutschland weiter steigen.
40 Prozent Rentner bei der Fuldaer Tafel
Auch bei der Fuldaer Tafel bemerkt man seit ein paar Jahren die zunehmende Verarmung der Rentner. „Wir haben in Fulda circa 3.000 Kunden. Davon sind über 40 Prozent Rentner“, erklärt Wolfgang Arnold, Vorsitzender der Tafel. Die Tendenz sei weiter steigend. „In den Großstädten ist dieser Negativtrend aber noch wesentlich deutlicher zu erkennen.“
Die Zahlen und Statistiken weisen auf eine beunruhigende Entwicklung hin. Es sind aber die Einzelschicksale, die betroffen und nachdenklich machen. Eben wie das einer 80-Jährigen, die an der Kasse im Supermarkt steht, und ihre zwei Äpfel und den Laib Brot nicht bezahlen kann.
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