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- Fotos: Leonie Feuerstein
09.08.13 - FULDA
„Runter!" Acht junge Männer werfen sich beherzt auf den Boden in Liegestützposition, berühren mit der Nasenspitze den Boden, stehen wieder auf, laufen weiter. „Hoch!" Sie springen in die Luft und ziehen beide Knie nach oben. Dann wieder rennen, immer im Kreis. „Hoch, runter, hoch!" Nun alles nacheinander, nicht langsamer werden, auch wenn die Muskeln schmerzen. „Kommt, ihr schafft das! Deckung oben lassen!". Was nach militärischem Drill klingt, ist das ganz normale Aufwärmprogramm des Teams „Urban Krav Maga Fulda".
„Krav Maga", das ist hebräisch und bedeutet „Kontaktkampf". Der Slowake Imi Lichtenfeld entwickelte diese Kampftechnik im Bratislava der 1930er Jahre, um sich gegen antisemitische Übergriffe zu wehren. 1948 wurde Lichtenfeld Nahkampfausbilder der israelischen Armee – und Krav Maga das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, die Soldaten auf Nahkämpfe vorzubereiten. Heute findet die israelische Selbstverteidigungstechnik immer mehr Beachtung auch im nicht-militärischen Bereich. In vielen Städten – so auch in Fulda – wird Krav Maga bereits neben der breiten Palette klassischer Kampfsportarten, wie etwa Kickboxen oder Karate, angeboten - mit steigenden Teilnehmerzahlen. Eine neue Trendsportart ist Krav Maga jedoch keineswegs.
Genau genommen handelt es sich gar nicht um eine Sportart, sondern um ein System aus vielfältigen Selbstverteidigungstechniken. Es gibt im Krav Maga keine Wettkämpfe oder Turniere. Es geht nicht darum, sich untereinander zu messen, oder besser sein zu wollen als andere im Team. Die angewendeten Techniken sollen weder elegant, noch beeindruckend oder spektakulär aussehen, wie es bei einigen asiatischen Kampfsportarten der Fall ist. Krav Maga ist keine Kunst, es gibt keine kulturelle oder philosophische Komponente. Bedenkt man, unter welchen Umständen es entwickelt wurde, und in welchem Umfeld es bis heute überwiegend eingesetzt wird, versteht man, dass Krav Maga nur eines will: effektiv sein, wenn es darauf ankommt.
Doch zurück zur Trainingsstunde in der Fightfactory Fulda, wo das Team Urban Krav Maga sein Domizil hat. Das kräftezehrende Aufwärmprogramm ist beendet, die Fensterscheiben des Trainingsraums sind mittlerweile beschlagen. Obwohl die meisten Teilnehmer kaum noch Atem zum Sprechen haben, ist nur eine kurze Trinkpause erlaubt, bevor es mit den eigentlichen Übungen zur Nahkampftechnik weitergeht: Verteidigung gegen den Würgegriff von vorne und die Abwehr gegen Schläge von oben, unten und von der Seite stehen heute auf dem Programm. Die Trainer David Wollmann und Rafael Reiche machen die einzelnen Schritte vor, die dann in einen flüssigen Bewegungsablauf zusammengesetzt werden.
„Sei immer bereit" - die innere Einstellung entscheidet
Krav Maga soll von jedem Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Fitnessgrad, erlernt und eingesetzt werden können. Indem die Techniken auf instinktiven Bewegungen basieren, prägen sich die Bewegungsabläufe schnell ein. Um erste Trainingserfolge zu sehen, ist daher kein monatelanges Training nötig. Und genau diese Einfachheit und die leichte Erlernbarkeit ist essentiell für Krav Maga. In vielen Situationen entscheiden weder Körpergröße, noch Gewicht oder Muskelkraft darüber, ob man sich bei einem Angriff erfolgreich verteidigen kann oder nicht. Viel eher ausschlaggebend ist das richtige Verhalten in den ersten Sekunden, und vor allen Dingen: überhaupt zu reagieren, und nicht vor Schreck zu erstarren, wenn man in körperliche Bedrängnis gerät. Das schnelle Reagieren mit effektiven Techniken wird in den Trainingsstunden in Partnerarbeit eingeübt – im Idealfall so lange, bis es sich automatisiert hat. Grundlegend und ebenfalls Bestandteil des Trainings ist außerdem der Aufbau eines entsprechenden „Mindsets", also einer bestimmten mentalen Haltung sich selbst und der Situation gegenüber. „Sei immer bereit", lautet einer der Grundsätze im Krav Maga. Und: immer weiter machen, egal wie aussichtslos die Situation erscheint.
Auf den ersten Blick strahlt Krav Maga Gewalttätigkeit und Aggression aus – dieser Eindruck täuscht jedoch. Es gehe nicht darum, eigene aggressive Gefühle aufzubauen, sondern darum, sich gegen die Aggressionen anderer zu verteidigen, erklärt David Wollmann. Angriffstechniken stehen nicht auf dem Lehrplan. Krav Maga ist kein dumpfes Draufschlagen – dafür spricht auch die Frauenquote. In den USA seien in den Trainingsstunden üblicherweise mehr Frauen als Männer vertreten, erzählt Wollmann, der das Krav Maga in Detroit für sich entdeckt, und auch seinen Trainerschein in den USA absolviert hat. Im Team Urban Krav Maga Fulda trainieren aktuell neben den 30 männlichen Teilnehmern auch 10 Frauen.
„Stell Dich gegen Gewalt": Semper fortis
Doch Krav Maga kann noch mehr, als wirkungsvolle Selbstverteidigungstechniken zu vermitteln. „Wir haben bemerkt, dass das Training große Auswirkungen auf das Selbstvertrauen der Teilnehmer hat", erklärt Trainer Rafael Reiche. Wer Woche für Woche die Erfahrung macht, sich aus eigener Kraft aus unangenehmen oder beklemmenden Situationen zu befreien, gewinnt an Selbstsicherheit, traut sich mehr zu. Diesen positiven Effekt greift Reiche in seinem Projekt „Semper fortis", zu deutsch: „Immer tapfer" auf. Das Angebot richtet sich gezielt an jene Menschen, die Opfer physischer oder psychischer Gewalt geworden sind. „Es gibt so viele Projekte und Angebote für Menschen, die selber gewalttätig sind oder ein Problem mit aggressivem Verhalten haben. Semper fortis soll den Menschen helfen, die Opfer geworden sind, und dadurch jeden Tag große Probleme in ihrem Alltag haben", erläutert Reiche. Wer an Semper fortis teilnehmen möchte, kann den betreffenden Flyer, der eine kostenlose Teilnahme ermöglicht, über die spezifischen Beratungsstellen bekommen.
Das Training des Teams Urban Krav Maga Fulda neigt sich dem Ende zu. Höhepunkt und Abschluss bildet der sogenannte „Drill", eine Übungseinheit, die sowohl den Einzelnen als auch das Team als Ganzes fordert. „Bei den Drills wird sehr hoher physischer und psychischer Stress erzeugt. Es sollen Situationen simuliert werden, wie sie auch auf offener Straße passieren könnten", erklärt Wollmann. Es wird trainiert, unter hoher Belastung richtig zu reagieren und handlungsfähig zu bleiben. Während sich ein Teilnehmer durch den Drill kämpft, feuern ihn seine Teamkollegen und die beiden Trainer lautstark an. Dann ist der Nächste an der Reihe. Auch wenn jeder die Aufgaben im Drill alleine bewältigen muss, kann er sich der Unterstützung des Teams sicher sein. Während des Trainings gibt es keine Gegner, sondern Trainingspartner. Sie kämpfen nicht gegen-, sondern füreinander. Ganz nach ihrem Motto: "No one’s left behind!"
Wer Lust bekommen hat, im Team Urban Krav Maga mitzutrainieren, kann an einer kostenlosen Probestunde teilnehmen: immer Montags, Dienstags und Mittwochs von 18:00 bis 19:00 in der Fight Factory Fulda. (lf) +++
Die Trainer Rafael Reiche (links) und David Wollmann.
Deckung oben lassen - auch beim Seitwärtslaufen.
Auspowern beim Aufwärmen: Liegestütze in Partnerarbeit.
Kniebeugen machen mit zusätzlichem Gewicht erst so richtig Spaß.
Bereit machen zur nächsten Technik.
Verteidigung gegen den Würgegriff von vorne.
Die Trainer zeigen, wie es funktioniert...
...bevor die Technik eingeübt wird.
Bei der 360°-Verteidigung können Angriffe von oben, von der Seite und von unten schnell und effektiv abgewehrt werden.
Anstrengender Drill: nachdem man sich aus der Belagerung befreit hat...
...gilt es, schnellstmöglich durch die Hindernisse zu gelangen...
...bevor am Ende eine Selbstverteidigungstechnik eingesetzt werden muss.
Vom Trainer gibt es (verbale) Unterstützung, während man sich freikämpft.
Teamgeist und Zusammenhalt sind ein wesentlicher Bestandteil im Team "Urban Krav Maga Fulda".