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Gedenktafel für den im Jahre 918 gestorbenen König Konrad I. im Dom - Alle Fotos: Stadtarchiv und Vonderau Museum

Germanenwagen: Zum Kreisturnfest des Jahres 1909 baute der Fuldaer Bürgerverein einen „Germanenwagen“. Die wild aussehenden Recken stellten ein „Altgermanisches Festgelage im Pfahlbau“ nach. Sie nahmen damit ironisch Bezug auf die von Joseph Vonderau im Jahre 1897/98 vorgenommenen Ausgrabungen an der Langebrückenstraße, bei der Pfahlbauten zum Vorschein gekommen waren

09.07.07 - IM WORTLAUT

Stadtarchivar Dr. Thomas Heiler: "Fuldas Bedeutung für das Mittelalter"

Der Leiter des Fuldaer Stadtarchivs Dr. Thomas Heiler hat anlässlich des Hessischen Archäologietags am Wochenende einen viel beachteten Vortrag über die Stadt Fulda und ihre Bedeutung für die mittelalterliche Reichsgeschichte gehalten. Die Redaktion dokumentiert diesen hier "IM WORTLAUT".

Goslaer Rangstreit: Wer darf neben dem Erzbischof sitzen?

"Am Weihnachtsfest des Jahres 1062 kam es in Goslar zu einem folgenschweren Eklat. In der dortigen Kirche St. Simon und Juda wollte der junge König Heinrich IV. mit seinem Gefolge den Abendgottesdienst feiern. Bei der Aufstellung der Stühle für die anwesenden Bischöfe brach ein heftiger Streit zwischen den Kämmerern des Hildesheimer Bischofs Hezilo und des Fuldaer Abtes Widerad aus. Es kam zunächst zu gegenseitigen Schmähungen, danach zu Handgreiflichkeiten, die gerade noch geschlichtet werden konnten, bevor die Kampfhähne zu den Schwertern griffen. Der Grund für die Auseinandersetzung klingt aus heutiger Sicht lächerlich. Die Fuldaer beanspruchten das alte Recht, daß ihr Abt dem Mainzer Erzbischof am nächsten sitzen dürfe, während die Hildesheimer darauf bestanden, daß ihr Bischof in seinem eigenen Bistum – Goslar gehörte zur Hildesheimer Diözese – niemanden den Vorrang geben müsse. Zwar schweigt sich der Chronist Lampert von Hersfeld, dem wir die Erzählung der Begebenheit verdanken, darüber aus, wer den Streit gewann, doch müssen wir aufgrund der folgenden Ereignisse davon ausgehen, dass sich die Fuldaer mit ihrem Anspruch zunächst durchsetzten und Abt Widerad an bevorzugter Stelle neben dem Mainzer Erzbischof Siegfried saß.

Damit war die Angelegenheit aber noch nicht ausgestanden. Nur ein knappes halbes Jahr später, an Pfingsten 1063, kam es am selben Ort und wiederum in Anwesenheit des Königs zu einer zweiten Runde, die in einer Katastrophe endete. Als für die Vesper am Pfingstsamstag die Stühle für die Bischöfe aufgestellt wurden, brach erneut ein Tumult zwischen Hildesheim und Fulda wegen des Ehrenplatzes neben dem Mainzer Erzbischof aus. Doch diesmal war der Konflikt von langer Hand vorbereitet. Kampfbereite Hildesheimer, die sich hinter dem Altar versteckt hatten, sprangen hervor, attackierten die Gesandten aus Fulda mit Fäusten und Knüppeln und jagten sie aus der Kirche hinaus. Die Fuldaer gaben allerdings nicht klein bei. Sie griffen zu den Waffen und stürmten die Kirche, wo inmitten des Chors und rund um die singenden Mönche herum der Kampf mit den Schwertern begann. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte. König Heinrich, der versuchte schlichtend einzugreifen, konnte mit Müh und Not die Kirche verlassen, um sein Leben zu retten. Der Kampf endete mit einem Sieg der Hildesheimer. Nachdem die Kirche vom Blut gereinigt war, konnte sogar die Messe gefeiert werden. Ein eilig am nächsten Tag abgehaltenes Strafgericht sah den Fuldaer Abt Widerad als alleinig Schuldigen an. Nur durch hohe Geldzahlungen entging er weiteren Sanktionen.

Unser Chronist Lampert schreibt hierzu: „Er [Widerad] verkaufte und verschwendete ... Eigentum des Klosters Fulda und kaufte sich und sein Gefolge um einen hohen Preis von den Anschuldigungen frei. Wieviel er dem König gab ... ist nicht bekannt. Es war nämlich vorgesehen, daß niemand davon erfahren sollte. Jedenfalls wurde der bis dahin glänzende und im Vergleich zu den anderen Kirchen ... überragende Reichtum und Wohlstand des Klosters so sehr ruiniert, daß kaum eine Spur davon zurückblieb“.

Neueste Forschungsergebnisse - eher stille Historie?

Die Episode, die unter der Bezeichnung „Goslarer Rangstreit“ in der mediävistischen Literatur bekannt ist, führt uns mitten in das Thema: „Fulda und seine Bedeutung für die mittelalterliche Reichsgeschichte“. Eigentlich ist es vermessen, einen solch umfassenden Gegenstand im Rahmen eines kurzen Vortrages zu behandeln, zumal hier eigentlich Vertreter gleich mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen ihre Ergebnisse beisteuern müssten, neben der Archäologie und der historischen Mediävistik auch die Kirchengeschichte, die Kunsthistorie, die Diplomatik und die germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft. Da dies allerdings selbst eine wissenschaftliche Tagung erfordern würde und soviel Zeit hier nicht zur Verfügung steht, habe ich mich entschlossen, Ihnen zusammenfassend die wichtigsten Forschungsergebnisse der letzten Jahre zum Thema zu präsentieren. Ihnen soll damit der Tagungsort Fulda, sofern dies überhaupt nötig ist, anhand der bedeutendsten Phase seiner Geschichte nahegebracht werden.

Dass ich mich als Stadtarchivar auf diese frühe Zeit von Fuldas Historie konzentriere, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. Von jeher hat die fuldische Stadtgeschichtsschreibung darunter gelitten, dass sich alle Forschungen nur auf das Kloster konzentrierten und die sich seit dem 10. Jahrhundert im Südosten davon entwickelnde Stadt nur am Rande betrachtet wurde. Als Grund hierfür schrieb der Gießener Historiker Peter Moraw zur 1250 Jahr-Feier Fuldas 1994: „Einmal ist der Name Fuldas strahlend hervorgetreten, in der Karolingerzeit. Im übrigen handelte es sich – jedenfalls nach weitgespannten Zusammenhängen geurteilt – eher um stille Historie“. Es kann nun eigentlich nicht in der Absicht der fuldischen Stadtgeschichtsforschung liegen, dieses Urteil noch dadurch zu untermauern, dass bei Anlässen wie dem heutigen nicht die Stadt, sondern deren Ursprünge im Kloster betrachtet werden. Wenn ich dies nun dennoch hier unternehme, dann kann ich es insofern mit gutem Gewissen, als derzeit unter Federführung des hiesigen Geschichtsvereins und unter Beteiligung der Stadt Fulda eine zweibändige Stadtgeschichte auf wissenschaftlichen Grundlagen in Arbeit ist, die der kommunalen Geschichte ihren gebührenden Stellenwert einräumt und die Dominanz der Klostergeschichte relativiert. Ausschlaggebend für meine heutige Wahl war nun aber Umstand, dass wir in den letzten Jahren mit dem Bonifatiusjubiläum des Jahres 2004, dem Rabanus Maurus Jubiläum des Jahres 2006 und einem hochkarätig besetzten Symposium zu dem in Fulda bestatteten König Konrad I. 2005 einen Forschungsboom zum frühmittelalterlichen Kloster erlebten, der eine resümierende Beschäftigung geradezu herausfordert.

Woraus speiste sich das fuldische Selbstbewusstsein?

Was lehrt uns nun der eingangs geschilderte Goslarer Rangstreit, abgesehen von dem spätestens seit den Forschungen Gerd Althoffs bekannten Umstand, dass im Mittelalter Symbole, Gesten, Gebärden und Rituale eine herausragende Rolle in der öffentlichen Kommunikation gespielt haben? Woraus speist sich das fuldische Selbstbewusstsein, dessen Abt den Vorrang vor allen anderen Bischöfen beanspruchte? Tuomas Heikkilä, der jüngst dem Streit eine umfassende Studie widmete, nennt mehrere Gründe, von denen keiner allein ausschlaggebend gewesen sei: 1. das im Jahre 751 verliehene Papstprivileg der Exemtion des Klosters, das eine direkte Unterstellung der Bonifatiusgründung unter den apostolischen Stuhl vorsah, ein damals ungewöhnlicher Vorgang. 2. das ebenfalls außergewöhnlich Papstprivileg des Jahres 969, in welchem dem Abt von Fulda der Primat unter allen Äbten Galliens und Germaniens zuerkannt wurde 3. das Ende des 10. Jahrhunderts dem Fuldaer Abt Hatto III. verliehene Recht während der Messe Dalmatik und Sandalen zu tragen, bis dahin traditionell ein Vorrecht von Kardinälen. Mutmaßlich nicht zu diesen Gründen dürfte hingegen, so Heikkilä, der Titel des Fuldaer Abtes als Erzkanzler der Kaiserin gehört haben. Dieser wurde erstmals in der Goldenen Bulle des Jahres 1356 genannt und dürfte kaum in seinen Ursprüngen bis in das 10. oder 11. Jahrhundert zurückreichen.

Jenseits der verbrieften Dokumente, auf die sich das fuldische Selbstbewußtsein gründen konnte, wog allerdings nach Heikkilä wohl ein Faktum noch viel mehr, nämlich das Wissen um die starke Bonifatius-Tradition und die daraus resultierende enge Hinwendung des Klosters zum Mainzer Bischofssitz, denn bekanntermaßen war Bonifatius seit 746 Bischof von Mainz. Fulda und Bonifatius, diese besondere Beziehung kann man als Komponente des fuldischen Selbstverständnisses nicht hoch genug veranschlagen und diese Feststellung gilt bis heute. Umgekehrt gilt aber wohl auch, daß bereits im 11. Jahrhundert die Berufung auf Bonifatius außerhalb von Fulda und Mainz als historisches Argument nicht sonderlich zog, auch nicht – wie in unserem Fall - beim Bischof von Hildesheim. Der „Apostel der Deutschen“ entfaltete im hohen und späten Mittelalter nicht mehr jene Wirkungsmacht im kollektiven Bewusstsein des Reiches und seiner geistlichen wie weltlichen Führungsschicht, wie sich Fulda als dessen sogenannte „Lieblingsgründung“ dies gern gewünscht hätte.

Das Bonifatiusjubiläum des Jahres 2004 brachte auch die Erkenntnis, dass bis heute der Angelsachse außerhalb seiner einstigen Wirkungsstätten nur am Rande zur Kenntnis genommen wird. Diese Feststellung gilt auch für jene Gebiete, in denen er kirchenorganisatorisch tätig war. In den von ihm eingerichteten bayerischen Bistümern steht den Regensburgern Emmeram, den Passauern Pilgrim, den Freisingern Korbinian und den Salzburgern Rupert näher. Gleiches gilt für das 741 von Bonifatius ins Leben gerufene Bistum Würzburg, das seine historische Erinnerung auf den Heiligen Kilian konzentriert. Selbst für Mainz konstatierte Stephanie Haarländer zum Jubiläum 2004, dass es nie eine „Bonifatiusstadt“ im eigentlichen Sinne geworden sei. Man hatte dort zwar ein paar Reliquien des Bonifatius, aber nicht ihn selbst.

Bonifatius als "Alleinstellungsmerkmal"

Fulda hatte hingegen mit dem Grab des bei einer Missionsreise in Friesland am 5. Juni 754 durch Räuber erschlagenen Angelsachsen einen Anziehungspunkt aufzuweisen, den heutige Werbestrategen als Alleinstellungsmerkmal bezeichnen würden. Es war Bonifatius selbst, der Fulda zu seiner letzten Ruhestätte erwählte. In einem auf den Sommer des Jahres 751 zu datierenden Brief an Papst Zacharias berichtete er, dass er in einem Waldgebiet in einer Einöde von ungeheurer Weltverlassenheit inmitten der Völker seines Missionsgebietes ein Kloster erbaut und dort Mönche angesiedelt habe, die nach der Regel des heiligen Benedikt in strenger Enthaltsamkeit lebten. Dort wolle er seinen Leib nach dem Tode ruhen lassen. Diese Bestimmung war ein Glücksfall für das junge Kloster, zunächst durchaus auch in materieller Hinsicht. Etwas mehr als eine Woche nach dem Ableben des Bonifatius, als sich Utrecht, Mainz und Fulda noch um den Ort der Bestattung stritten, gab es die ersten Gütertraditionen an seine Gründung zum Seelenheil der Schenker. Bei einer Schenkung am 23. Juli 754 wird zum ersten Mal erwähnt, daß im Kloster der Körper des heiligen Märtyrers bestattet sei.

Nur am Rande sei erwähnt, dass jüngste archäologische Forschungen die Aussage des Bonifatius, wonach er sich mit seinem Kloster mitten in der Einöde niedergelassen habe, zu bestätigen scheinen. Bisher war es seit den Ausgrabungen Joseph Vonderaus an der Langenbrückenstraße und im Bereich des Domes seit einhundert Jahren einhellige Meinung gewesen, dass die bonifatianische Gründung auf den Resten eines fränkischen Herrenhofes, einer curtis, erfolgt sei. Thomas Kind, der jüngst die Funde und Thesen Vonderaus kritisch überprüft hat und dies auch in Band 1 der oben angesprochenen Stadtgeschichte publizieren wird, kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis. Aus seiner Sicht gibt es keinen archäologischen Beweis für eine merowingerzeitliche Besiedelung Fuldas. Sowohl den von Vonderau ebenfalls postulierten prähistorischen Pfahlbauten, die bis kurz vor die Zeit der Klostergründung genutzt worden seien, als auch der curtis-Theorie wäre damit der Boden entzogen. Vorsichtiger in der Beurteilung der Thesen Vonderaus hinsichtlich der Pfahlbauten ist aus umweltarchäologischer Sicht Holger Rittweger, dessen paläoökologische Auswertung neuerer Schnitte im Bereich des von Vonderau untersuchten einstigen Moorgebiets an der Langebrückenstraße seit einigen Tagen im Druck vorliegt.

Wie dem auch sei, sicheren Boden betreten wir mit der Erkenntnis, daß die zahlreichen Güterschenkungen an das Kloster die große Wirkungsmacht des Bonifatius in der zweiten Hälfte des 8. und im 9. Jahrhundert dokumentieren. Seine Gründung erhielt Zuwendungen aus dem gesamten Karolingerreich von Friesland bis nach Oberitalien, überwiegend aber aus dem thüringischen, fränkischen, hessischen und rheinfränkischen Raum. Einher mit der Verbreiterung des wirtschaftlichen Besitzes ging eine Ausweitung des klösterlichen Konvents, der bereits Anfang der 780er Jahre 364 Mönche zählte. Entscheidend für die künftige Entwicklung des Klosters war die enge Hinwendung zum Königtum. Im Jahre 765 nahm der zwischenzeitlich verbannte Abt Sturmi von König Pippin seine Würde neu entgegen und verpflichtete sich, fortan sein Recht und den Schutz des Klosters von niemandem sonst als dem König zu erbitten. Darin zeigt sich nichts anderes als eine Notwehr gegen den Mainzer Bischof Lul, der versucht hatte, seiner Diözese das Kloster einzuverleiben.

Interesse an zuverlässigem Stützpunkt in strategisch wichtiger Lage

Das enge Zusammengehen mit den Karolingern wurde 774 durch die Verleihung der Immunität, also der Freistellung Fuldas und seiner Besitzungen aus der Zuständigkeit des regulären Grafengerichts sowie durch das Recht der freien Abtswahl belohnt. Hinzu kamen zahlreiche Güterschenkungen des karolingischen wie auch später des ottonischen Königtums an Fulda, das seine Königstreue damit durchaus belohnt sah. Das Interesse der Karolinger an der Bonifatiusgründung hatte handfeste politische Gründe. In der strategisch günstigen Lage zwischen Mainz, Franken und Thüringen musste dem Königtum daran gelegen sein, einen zuverlässigen Stützpunkt zu haben. Nicht zufällig fallen die Privilegierungen des Jahres 774 in eine Zeit, in der Fulda bei der Missionierung des militärisch okkupierten Sachsens dringend benötigt wurde. Fuldas erster Abt Sturmi begleitete Karl den Großen auf einen seiner Kriegszüge nach Sachsen. Auf der Eresburg, welche das germanische Heiligtum der Irminsul beherbergte, war Sturmi stationiert, möglicherweise ein symbolischer Akt, wie der Marburger Historiker Ulrich Hussong vermutet. Es sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass die Zeit der Christianisierung Sachsens nun endgültig gekommen war.

Auch wenn Fulda, wie die Forschung relativierend festgestellt hat, kein ausgesprochenea Missionskloster Sachsens war, so kann seine Bedeutung besonders für die Christianisierung des Raumes an der oberen Weser um Hameln und Minden nicht hoch genug veranschlagt werden. Auch in der Folge sind Sturmis Nachfolger „durchweg willig dem Ruf ihrer Herrscher gefolgt und haben notfalls weite Reisen und Abwesenheiten nicht gescheut, um in deren Nähe zu sein“, wie Rudolf Schieffer bemerkte. Zudem waren die Äbte geachtete und gern gesehene Ratgeber für diplomatische Missionen, so etwa Hatto II., dem beim Romzug Ottos I. Anfang 962 die Aufgabe zufiel, die bevorstehende Kaiserkrönung zu organisieren. Weniger ehrenvoll und für das Kloster in seiner Existenz bedrohlich war hingegen die durch das Königtum immer wieder ohne Scheu betriebene Heranziehung des militärischen und materiellen Potentials Fuldas bei Kriegszügen, das sogenannte servitium regis. Unter allen Abteien des Reiches stellte Fulda zusammen mit der Reichenau das größte militärische Aufgebot im Reichsheer. Das von Schieffer geprägte Diktum von Fulda als einer Abtei der Könige und Kaiser hat also durchaus auch seine Kehrseite. Die Privilegierungen wurden mit der Einbeziehung in die militärischen Abenteuer der Könige teuer erkauft. Das einstige Musterkloster, das sich nach dem Willen seines Gründers in der Einsamkeit der Verwirklichung des monastischen Ideals widmen sollte, war schon bald sehr tief in zahlreiche weltliche Angelegenheiten verwickelt.

Vor diesem Hintergrund ist auch ein weiteres Themenfeld zu sehen, das die Forschung in den letzten Jahren stark beschäftigt und zu kontroversen Diskussionen geführt hat. Es geht um die inneren Spannungen im Kloster, die sich seit Sturmi wie ein roter Faden durch die frühmittelalterliche Geschichte des Konvents ziehen. Am bekanntesten ist die Auflehnung der Mönche gegen ihren Abt Ratgar, der im Jahre 817 von Kaiser Ludwig dem Frommen abgesetzt und in die Verbannung geschickt wurde. Auch zwei seiner Nachfolger, nämlich Thioto und Sigihart, mußten im Jahre 869 bzw. 891 auf Druck des Königtums ihr Amt räumen. Hier zeigten sich die Schattenseiten einer zu engen Anlehnung an die weltliche Macht, die sich bedenkenlos in die inneren Angelegenheiten des Klosters mischte. Konflikte wurden nicht – wie es sich eigentlich gehörte - innerhalb des Konvents gelöst, sie wurden stattdessen sehr schnell zu einem reichsweiten Politikum. Gerade am Beispiel des durch seine Bautätigkeit bekannten Abtes Ratgar, gegen den sich die Mönche im Jahre 812 in einer Klageschrift an Karl den Großen beschwerten, entzündete sich eine Forschungsdiskussion um die tieferen Hintergründe der Auseinandersetzung.

Schon lange wurde gemutmaßt, Ratgars „Bauwut“, die eine der ersten doppelchörigen Kirchenanlagen im Frankenreich schuf, sei Hauptursache des Streites gewesen. Um eine der großartigsten Kirchen des Reiches zu vollenden, habe der Architekten-Abt die Wirtschaftskraft des Klosters sowie die Arbeitskraft der Mönche gnadenlos ausgeschöpft. Und tatsächlich findet sich in der genannten Klageschrift an Karl den Großen die Forderung, daß die unmäßigen und überflüssigen Bauten sowie die anderen unnützen Arbeiten eingestellt werden sollten. Steffen Patzold, der dieser Erklärung entgegentrat, verweist allerdings darauf, daß auch Ratgars Nachfolger Eigil fleißig weitergebaut habe und zwei Krypten in der Klosterkirche ebenso errichten ließ wie die benachbarte Michaelskirche, ohne dass einer der Mönche dagegen aufbegehrt habe.

Jüngst hat Johannes Fried eine andere Deutung vorgelegt. Nach ihm gab es im Kloster zwei Fraktion: Jene, welche sich gegen Ratgar auflehnte, sei dem alten monastischen Ideal angehangen und habe im Gebet und der Weltabgeschiedenheit ihr Ideal gesucht. Hingegen habe sich eine Gruppe von „Modernisierern“ den Bildungsauftrag Karls des Großen zu eigen gemacht und das Kloster Fulda zu einem Standort der Wissenschaften umbauen wollen. Dies habe zwangsläufig zu einem Konflikt führen müssen, der nach Ratgars Absetzung nur dadurch zu lösen war, dass die Traditionalisten mit dem fast siebzigjährigen Eigil einen am Alten festhaltenden Übergangsabt erhielten, während mit Rabanus Maurus, der Eigil im Jahre 822 auch tatsächlich als Abt nachfolgte, ein Vertreter der jungen, wissenschaftsorientierten Fraktion in Lauerstellung gebracht wurde.

Auch dieser Interpretation des Konflikts als einer Auseinandersetzung zwischen „Betern“ und Gelehrten“ kann Patzold nichts abgewinnen, da die Quellen diese Thesen nicht stützten. Seine eigene Erklärung, wonach die monastische Reformbewegung, der Ratgar anhing und in deren Sinn er das Kloster umstrukturieren wollte, der eigentlichen Auslöser der Zerwürfnisse gewesen sei, vermag allerdings auch nicht so recht zu überzeugen. Es dürfte wohl in jeder dieser Argumentationen ein wichtiges Motiv zu finden sein, ohne daß eines allein bestimmend war. Zu bedenken ist darüber hinaus, daß eine Mönchsgemeinschaft, der um 825 etwa 600 Mitglieder angehörten und die in einem Kloster lebte, das als Großgrundbesitzer einem kleinen Konzern glich, nicht mehr problemlos nach der alten Benediktregel, in der allein der Gehorsam gegenüber dem Abt galt, zu führen war, zumal dann, wenn sich das Königtum immer wieder in die innerklösterlichen Konflikte einschaltete, während die Äbte im Gegenzug auf der politischen Bühne agierten.

Trotz aller inneren Konflikte, die das Kloster Fulda insbesondere während des 9. Jahrhunderts zu lähmen drohten, zeugt die Streitbereitschaft doch auch von einer geistigen Lebendigkeit, die sich nicht immer durch Ordensregeln disziplinieren ließ. Dieser Lebendigkeit ist Fuldas Rolle für die Tradierung volkssprachlicher Texte zu verdanken. Anläßlich des 1200jährigen Klosterjubiläums im Jahre 1944 behauptete kein geringerer als Edmund Stengel, daß in Fulda die Wiege der althochdeutschen Literatur gestanden habe. Stengels euphorische Wertung hat die Germanistik inzwischen relativiert. Manche der von ihm dem Kloster Fulda zugeschriebenen Texte wie etwa das Muspilli, ein um 870 entstandenes Stabreimgedicht über den Weltuntergang, sind nicht hier entstanden. Dies gilt auch für das älteste in deutscher Sprache überlieferte Gedicht, das um 790 niedergeschriebene Wessobrunner Gebet. Dennoch nimmt Fulda nach wie vor im Bereich der Literaturtradition eine herausragende Stellung ein. Erst jüngst erbrachte die Würzburger Dissertation von Wolfgang Beck den ziemlich sicheren Nachweis, daß die Merseburger Zaubersprüche um 820 bis 830, also zur Zeit des Abtes Rabanus Maurus, in Fulda niedergeschrieben wurden. In diese Zeit fällt auch die Niederschrift des ältesten erhaltenen Heldengedichts in deutscher Sprache, des Hildebrandslieds, das zweifelsfrei in Fulda abschriftlich gesichert wurde. Die literarische Blütezeit des Klosters unter Abt Rabanus Maurus, der Schüler wie Otfried von Weißenburg, Walahfrid Strabo und Rudolf von Fulda schon in seiner Zeit als Leiter der Klosterschule nach Fulda zog, ist auch im Jubiläumsjahr 2006 ausführlich gewürdigt worden.

Die auf uns gekommene umfangreiche eigene literarische Produktion Rabans ist ausschließlich theologischen Inhalts. Sein bekanntestes Werk, die um 810 entstandenen Laudes de sanctae crucis verkünden in 28 Figuren das Lob des Heiligen Kreuzes. Unklar bleibt nach wie vor, in wieweit sich Raban der Verbreitung volkssprachlicher Texte widmete. Die ältere germanistische Forschung, offenbar noch geprägt durch den Germanenkult der Nazizeit, sah in Raban einen Verfechter germanischer Kultur und Vergangenheit und führte die Merseburger Zaubersprüche, in denen als einzigem althochdeutschen Textdenkmal germanische Götternamen vorkommen, als Kronzeuge an. Diese Einschätzung dürfte mit Sicherheit übertrieben sein. Direkte Beweise dafür lassen sich jedenfalls nicht erbringen und konnten auch im Jubiläumsjahr nicht näher erhellt werden. Immerhin bleibt sein Name nach wie vor mit der deutschen Literaturgeschichte untrennbar verbunden. In seine Amtszeit fallen nämlich nicht nur die Niederschrift des Hildebrandslieds und der Zaubersprüche, sondern auch die althochdeutsche Übertragung einer aus den Evangelien zusammengestellten Lebensgeschichte Jesu, die unter dem Namen ihres Verfassers, des Syrers Tatian, berühmt geworden ist.

Bedeutung Fuldas für das Königtum

Zum Schlss komme ich zurück auf die Bedeutung Fuldas für das Königtum. Es war oben bereits von handfesten materiellen Interessen die Rede, welche die Karolinger im Zusammenhang mit der Erhebung Fuldas zu einem Königskloster verbanden. Doch werden wir dem besonderen Denken der Zeit nicht gerecht, wenn wir das königliche Engagement allein auf diesen Punkt reduzieren. Die zwischenzeitlich ausufernde Memoria-Forschung der letzten Jahre hat deutlich gezeigt, daß die Fürsprache einer Mönchsgemeinschaft durch das Gebetsgedenken von elementarer Bedeutung für die damaligen Menschen war. Die Motivierung unzähliger Schenkungen an das Kloster durch den Hinweis auf das Seelenheil (pro remedio animae meae) dürfen nicht einfach als Topos verstanden werden. Die Fuldaer Mönche beteten für ihre Mitbrüder ebenso wie für die zahlreichen Schenker und für die Herrscher. Diesem Umstand verdanken wir eine überaus reiche Überlieferung an Memorialtexten, wie etwa die seit 779 geführten fuldischen Totenannalen. Die Bonifatiusnähe und die – modern gesprochen – religiöse Infrastruktur einer großen Mönchsgemeinschaft, welche den Gebetsverpflichtungen der Stifter nachkommen konnten, übten auf viele vermögende Grundbesitzer ebenso eine große Anziehungskraft aus wie auf das Königtum selbst. Dieser besonderen Hinwendung verdanken wir die älteste auf deutschem Boden erhaltene Königsurkunde, ein Diplom König Pippins aus dem Jahre 760, in dem er dem Kloster Fulda den Hof Deiningen im Ries überträgt, „zur Mehrung unseres ewigen Lohns“. Auch die territorialgeschichtlich folgenreiche Schenkung von Hammelburg durch Karl den Großen 777 wird mit der Mehrung des himmlischen Lohns begründet.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn sich ein Herrscher Fulda sogar als Grablege auswählte, wie dies im Falle König Konrads I. geschehen ist. Der erste gewählte deutsche König, der im Jahre 918 verstarb und sich eben nicht in seiner Heimat im Lahngau, etwa in Limburg oder Weilburg bestatten ließ, suchte ganz offenbar die Bonifatiusnähe und die Fürsprache einer bedeutenden Mönchsgemeinschaft. Sein Grab, das sich an herausragender Stelle mitten in der alten Basilika beim Kreuzaltar befand, ist nicht mehr erhalten und wird wohl auch, selbst wenn im Bereich des Dominneren Grabungen vorgenommen würden, nicht mehr gefunden werden. Die Erinnerung an ihn, die in Fulda zwischenzeitlich verblasst war, wird derzeit allerdings durch die Aktivitäten einer bürgerschaftlichen Initiative wach gehalten. Dieser gelang es, ein hochkarätig besetztes wissenschaftliches Symposium im Herbst des Jahres 2005 nach Fulda zu holen, das sich zum ersten Mal einzig und allein mit diesem lange Zeit von der Mediävistik gering geschätzten und als gescheitert eingestuften König an der Achsenzeit von den Karolingern zu den Ottonen beschäftigte.

Naturgemäß interessierte sich die Forschung vor allem für langfristige Entwicklungen, die in der Konradzeit begründet wurden und stellte daher die Tagung unter eine seit langem heiß diskutierte Frage, nämlich die nach dem Beginn eines Deutschen Reiches. Immerhin wurde daneben aber doch auch klar, welch eine bedeutende Rolle Fulda zu Beginn des 10. Jahrhunderts noch spielte, insbesondere im Bereich der königlichen Memorialpflege. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu dem in der Vergangenheit immer wieder beklagten, vermeintlichen Niedergang des Konvents im späten 9. und 10. Jahrhundert.

Gedankenspiele unter dem Motto „Was wäre, wenn“ verbieten sich zwar für den Historiker, doch aus lokalpatriotischer Sicht und nicht nur aus dieser ist doch die Frage erlaubt, was wäre gewesen, wenn Konrad eine längere Amtszeit gehabt hätte und die Konradiner dadurch befähigt gewesen wären, eine Königsdynastie aufzubauen. Konrads Grab wäre mit Sicherheit nicht so schnell in Vergessenheit geraten, wie dies tatsächlich geschah, Fulda hätte zu einem geistlichen und memorialen Zentrum des Reiches werden können und stünde heute da, wo sich nun Magdeburg mit den Ottonen positioniert. Wie gesagt, Gedankenspiele dieser Art verbieten sich eigentlich, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht, reizvoll sind sie aber allemal.

Kloster hatte Spitzenstellung unter den geistlichen Institutionen

Kehren wir am Ende zu dem eingangs geschilderten Goslarer Rangstreit zurück und fragen noch einmal nach den Gründen für das fuldische Selbstbewusstsein. Durch die wenigen Bemerkungen dürfte klar geworden sein, dass Fulda politisch, geistlich und kulturell seit seiner Gründung zumindest bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts im ausgehenden Karolinger- und sich entwickelnden Deutschen Reich in der ersten Reihe der Herrschaftsträger stand. Die enge Beziehung zum Königtum sicherte dem Kloster rechtlich, vor allem aber auch ideell eine Spitzenstellung unter den geistlichen Institutionen. Als religiöses wie kulturelles Zentrum, dessen Wirken untrennbar mit den Namen Bonifatius und Rabanus Maurus verknüpft war, übte es noch bis ins frühe 11. Jahrhundert eine große Anziehungskraft aus.

Nicht von ungefähr fand einer der glänzendsten Staatsbesuche dieser Zeit in Fulda statt, als Kaiser Heinrich II. im Jahre 1020 mit aufwendigem Zeremoniell Papst Benedikt VIII: empfing. Dieser ließ sich die Privilegien der Abtei laut vorlesen und bestätigte sie von neuem. Mit solch einer Rückendeckung im Handgepäck traten die Fuldaer wohl auch in Goslar auf, nicht erkennend, daß die Abtei zu klein und in ihren materiellen und personellen Ressourcen nicht in der Lage war, im Konzert der größeren Territorien mitzuspielen. Als der in Goslar als Schuldige ausgemachte Abt Widerad nach Hause kam, lehnten sich seine Mönche, die ihm vorwarfen, mit seinen Aktionen das Klostergut zu verschleudern, gegen ihn auf. Zwar konnte Widerad die Rebellion mit Hilfe des Kaisers noch einmal zu seinen Gunsten niederdrücken, doch scheint mit dem Goslarer Rangstreit und seinen Folgen ein Wendepunkt in der fuldischen Klostergeschichte eingetreten zu sein. Am augenfälligsten wird dies dadurch, daß die seit 779 geführten Totenannalen mit dem Jahre 1065 unvermittelt abbrechen.

Die Memoria für die Verstorbenen, eine der wichtigsten Funktionen, welche das Kloster ausübte, kam durch die inneren und äußeren Streitigkeiten zumindest vorübergehend zum Erliegen. Fuldas beanspruchte Vorrangstellung ging durch die innere Auszehrung nach und nach verloren. Im beginnenden Territorialisierungsprozeß des Spätmittelalters konnte die Abtei mit ihrem relativ kleinen Herrschaftsgebiet zwar seine Unabhängigkeit bewahren, war aber bestenfalls noch als Puffer zwischen den größeren umliegenden Mächten ein nennenswerter Bestandteil der Reichspolitik. Immerhin, die einstige herausragende Stellung seines Klosters und die bis zum Ende des Alten Reiches bewahrte staatliche Selbstständigkeit, prägen das fuldische Selbstbewusstsein bis heute.+++


Die Karikatur eines Mönches zeigt den verhassten Abt Ratgar (abgesetzt 817), der als Einhorn in die Herde der Schafe einbricht und diese vertreibt

Ratgarbasilika: Modell der Ratgarbasilika, um das Jahr 1000


Der „Spatenprofessor“ Joseph Vonderau (1863-1951), der als erster systematisch archäologische Grabungen in Fulda durchführte


Der Blick ins Innere der Ratgarbasilika zeigt den Kreuzaltar inmitten der Kirche, bei dem König Konrad I. bestattet war

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