Archiv
Der erste Schritt zur Integration – Eintauchen in fremde Lebenswelten
09.05.15 - Vorsichtig lässt Marianrun ihren Zeigefinger über den Ortsplan von Kirchheim gleiten. Die Hauptstraße hat die Somalierin bereits gefunden; jetzt „biegt“ sie rechts in die Schloßstraße ab. Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras und Ghandi tun es ihr gleich. Alle visieren sie die Schloßstraße an. Kein Wunder: befindet sich doch hier die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, die derzeitige „Übergangsheimat“ der acht jungen Menschen. Gemeinsam nehmen sie an einem einwöchigen Sozialtraining teil, das unter dem Titel „Lebenswelten“ steht und Teil des Projektes „Interkulturelles Qualifizierungsmanagement im Landkreis Hersfeld-Rotenburg“ ist.
Nach der erfolgreichen Straßensuche, stellen Andrea Hilger und Jan Elfers vom ambulanten Team Hephata in Bad Hersfeld ihren Schützlingen die nächste Aufgabe: das Aufspüren von Rufnummern aus dem örtlichen Telefonbuch. Kein leichtes Unterfangen für die Kursteilnehmer. Schließlich müssen sie erst lernen, die für sie völlig fremd klingenden Vor- und Nachnamen voneinander zu unterscheiden, hinzu kommen sprachliche Barrieren mit ihren „Trainern“. Die beiden Sozialpädagogen meistern mit einer Mischung aus Deutsch und Englisch erfolgreich dieses Hindernis. Marianrun, die vor zwei Monaten in Kirchheim gestrandet ist, übersetzt für ihren Tischnachbarn. Nach knapp einer Stunde hat das Gros das Ordnungsprinzip des Telefonbuches durschaut. Fleißig werden die gesuchten Rufnummern auf Zetteln notiert und an die große Schultafel geschrieben. Marianrun ist glücklich: Sie, die in unserer Sprache die Zahlen von eins bis 999 perfekt aufsagen kann, hat ganz „nebenbei“ ein ihr noch fehlendes Wort gelernt. „Null“, parliert sie mit einem strahlenden Lächeln auf ihren Lippen.
Erste Orientierungshilfen in einem völlig fremden Land
„Im Verlauf des Sozialtrainings beschäftigen wir uns mit grundlegenden Themen, wie Respekt, Zusammenhalt und Höflichkeit, aber auch mit alltäglichen Dingen, wie beispielsweise Mülltrennung“, erläutert Andrea Hilger. „Unser Ziel ist es, die jungen Menschen, die sich erst seit kurzem in Deutschland aufhalten, an die hiesigen Gewohnheiten und Besonderheiten heranzuführen.“ Aufgrund kultureller Unterschiede haben die Flüchtlinge nur vage Vorstellungen von den Gepflogenheiten des Aufnahmelandes. Schnell kann es zu Missverständnissen kommen. „Wir schauen uns, wenn wir miteinander reden in die Augen. In anderen Kulturkreisen gilt dies als unhöflich“, erklärt Jan Elfers. Den beiden Sozialpädagogen liegt es sehr am Herzen, dazu beizutragen, den Kursteilnehmern bei der ersten Orientierung in einem für sie fremden Land zu helfen und ihnen die Integration zu erleichtern.
Mittlerweile sind Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras, Marianrun und Ghandi mit Feuereifer dabei, die auf einem Prospekt abgedruckten Lebensmittel auszuschneiden und diese zu sortieren. Vor ihnen liegen drei weiße Plakate, jedes von ihnen trägt eine andere Überschrift: Glasmüll, Biomüll, Gelber Sack. Akribisch ordnen die sechs Jungs und die beiden Mädels die Produkte den einzelnen Plakaten zu, um sie – nach einem bestätigenden Nicken der beiden Sozialpädagogen – mit Klebstoff an die richtige Stelle zu platzieren. Geschafft! Nach vier Stunden des angestrengten Lernens ist Schluss für heute.
Hoffnung auf ein Leben ohne Verfolgung und Gewalt
Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras, Marianrun und Ghandi sind acht von insgesamt 31 Flüchtlingen, die zurzeit in der Kirchheimer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge leben. Weitere 44 Migranten sind in vom Landkreis angemieteten Wohnungen, ebenfalls in Kirchheim, untergebracht. Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Algerien und Äthiopien waren einst ihre Heimatländer – allesamt Krisengebiete. In unseren Gefilden angekommen, hoffen sie auf ein besseres Leben. Auf ein Leben ohne Terror, Hass, Todesangst, Verfolgung und Gewalt. „Viele Jugendliche, die bei uns wohnen, sind traumatisiert“, unterstreicht Anna Peters, die stellvertretende Heimleiterin.
„Was ihnen widerfahren ist, lässt sich kaum in Worte fassen. Ein Junge musste beispielsweise miterleben, wie seine ganze Familie ausgerottet wurde.“ Anna Peters weiß, dass sich viele Flüchtlinge, die das Grauen am eigenen Leib gespürt haben, ihre Erlebnisse von der Seele reden möchten. Es fehle aber leider an professionellen Anlaufstellen und geistlichem Beistand. „Wenn ihnen nicht geholfen wird, die schrecklichen Geschehnisse zu verarbeiten, kann es passieren, dass ihre Gemütslage irgendwann in Aggressivität umschlägt“, warnt die stellvertretende Heimleiterin.
Überhaupt freue sich die Kirchheimer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge über jegliches Engagement seitens der Bevölkerung. „Sehr begehrt bei uns sind Fahrräder“, bekräftigt Anna Peters. „Mit einem Drahtesel sind unsere Bewohner viel mobiler, können damit ihre Einkäufe transportieren und gelangen besser zu ihren Kursen.“ Zudem haben die Mitarbeiter eine kleine Kleiderkammer eingerichtet, die mit gut erhaltenen Anziehsachen, Bettwäsche und Spielzeug für die kleinsten Bewohner gefüllt werden will. Die Monatssätze, die die Flüchtlinge ausgezahlt bekommen, seien nicht sehr hoch, betont Anna Peters. „Das Geld reicht gerade für das Allernötigste aus, da bleibt nicht viel für ‚Extras‘ übrig.“ Wer helfen möchte, die Flüchtlinge in unsere Gesellschaft zu integrieren – sei es mit Kleiderspenden oder aber mit ehrenamtlichen Einsatz –, kann sich direkt an die Kirchheimer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in der Schloßstraße 2, Telefon: 06625/344614, oder an Antonia Rösner, Koordinatorin für ehrenamtliche Zusammenarbeit im Bereich Migration im Landkreis Hersfeld-Rotenburg, Telefon: 06621/873515, wenden. (Stefanie Harth) +++