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Alexander Blum, Stephan Wahl, Marco "Toni" Sailer und Marc-Antonio Padilla (von links) - Fotos (3): Privat

BAD HERSFELD / DARMSTADT Fußball-Blog: Unnatürliche Handbewegung

Löten mit den Lilien: Samstag "Dorfheld" in Sorga - Sonntag in 98er-Kabine

HINTERGRUNDArne Steinberg, ehemaliger Fußballer der SG Niederaula/Hattenbach und gebürtig aus Niederjossa, ab der neuen Saison in Diensten der SF/BG Marburg, arbeitet nach zwei absolvierten Erasmus-Semestern mittlerweile in Lille, Frankreich. Seit Februar betreibt er einen Blog über Fußball, in dem er alles diskutiert und nichts aufklärt. Der Name des Blogs entstand durch den wunderschönen Begriff der "unnatürlichen Handbewegung".

26.05.15 - Über das "Wunder vom Bölle" wurde in den vergangenen Tagen bundesweit ausführlich berichtet. Auch zwei Mitarbeiter von OSTHESSEN|NEWS waren am Pfingstsonntag nach dem entscheidenden Spiel des künftigen Fußball-Bundesligisten SV Darmstadt 98 gegen den FC St. Pauli (1:0) zumindest bei der Aufstiegsparty live dabei (wir berichteten). Noch näher dran waren allerdings drei Jungs aus dem Hersfelder Raum: Stephan Wahl, Marc-Antonio Padilla und Alexander Blum. Der gebürtige Niederjossaer Arne Steinberg (siehe Hintergrund rechts) hat die unglaublichen Erlebnisse der Jungs in seinem Fußball-Blog "Unnatürliche Handbewegung" festgehalten. Lesen Sie nachfolgend die Story:

"Darmstadt ist Bundesligist, das ist mittlerweile bekannt. Ich selber habe den Weg des SVD ehrlicherweise so richtig erst ab dieser Saison verfolgt und mir auch meine etwas tiefergehenden Gedanken zum Aufstieg und der Wahrnehmung des Vereins gemacht. Dem geneigten Leser mag jetzt bereits aufgefallen sein, dass ich einerseits den einsetzenden Hype um Darmstadt 98 kritisiere und andererseits einen weiteren Artikel darüber verfasse. Sicherlich korrekt, aber manchmal erfordern besondere Situationen außergewöhnliche journalistische Maßnahmen.

Die Mannschaft und der Verein verdienen diesen Erfolg durch die harte Arbeit der letzten beiden Jahre, Mentalität schlägt Qualität. Das Mantra von Trainer Dirk Schuster hat Bestand und ist für uns alle ein Zeichen. Teamgeist, Einsatzbereitschaft und der Wille zur Qual sind immer noch die entscheidenden Grundlagen für sportlichen (und sonstigen?) Erfolg. Der bodenständige Charakter der Erfolgsmannschaft sorgt für hüpfende Herzen unter Fußballfans. Dass bei Darmstadt alles wirklich etwas anders ist, zeigt sich unter anderem auch an folgendem Bericht über die Feierlichkeiten am Sonntag. Protagonisten sind neben den Uffstiechshelden eine Handvoll Freunde von mir, die die Festivitäten aus nächster Nähe miterleben durften. Warum, wie und wo, auf diese Fragen geben die folgenden Ausschnitte Auskunft.

Pfingstsamstag, 16:25Uhr, auf einem Sportplatz in Sorga bei Bad Hersfeld

Nicht nur in der Bundesliga geht es an diesem Samstag im Abstiegskampf um alles. Jedes Tor, jede einzelne misslungene und gelungene Aktion kann über den Ausgang eines ganzen Jahres harter Arbeit entscheiden. Der gastgebende Verein kämpft mit Mann und Maus ums Überleben in der Bezirksliga, nur ein Sieg gegen den direkten Konkurrenten hilft, um am letzten Spieltag den Klassenerhalt aus eigener Kraft zu schaffen. In Überzahl bekommt der Gast beim Stand von 2:1 einen Elfmeter zugesprochen, der Ausgleich wäre schon fast die halbe Miete und für den Gastgeber der Stoß über die Klippe. Die 200 Zuschauer halten beim Elfmeterpfiff den Atem an.

"Wenn mein Sohn den Elfmeter hält, bekommt er von mir eine Eintrittskarte für das Spiel in Darmstadt morgen", trompetet die schockstarre Mutter des Torhüters der Gastgeber vor der Ausführung des wichtigsten Elfmeters der Saison, die Umstehenden feixen trotz der dramatischen Lage. Ihr Sohn, Leistungsträger sowohl als Torwart in seiner Dorfmannschaft als auch als Student an der TU Darmstadt, bekommt von dieser Aussage natürlich nichts mit, er ist zu sehr auf den Schützen und den anstehenden Elfmeter fokussiert. Durch Neuer-esque Fähigkeiten gelingt es ihm tatsächlich, das Tor und den sicheren Abstieg zu verhindern. Seine Mannschaft verteidigt in den letzten 20 Minuten bedingungslos die Führung und sichert sich ein Endspiel am letzten Spieltag.
Nach dem Spiel wird der Torwart von Zuschauern auf den Wetteinsatz von seiner Mutter hingewiesen. Wettschulden sind Ehrenschulden, die Mutter ist fortan auf der Suche nach einem Ticket für ihren Sohn und dieser bereits auf dem Weg nach Darmstadt.

Pfingstsonntag, 14:50, Merck-Stadion am Böllenfalltor, Darmstadt

Nichts zu machen. Selbst der sonst so ergiebige Schwarzmarkt bricht unter dem Andrang vor dem letzten Heimspiel von Darmstadt 98 zusammen. Selbst die allergrößte Nichtabstiegsprämie seines Dorfvereins erscheint wie ein kleines Taschengeld im Gegensatz zu den horrenden Summen, die fliegende Händler für ihre Tickets ausrufen. Der Torwart hätte sich verschulden müssen, um irgendwie noch ein Ticket zu ergattern. Traurig realisiert er, dass er das Spiel nicht im Stadion wird verfolgen können. Wie gut ist es doch, dass er nur einen Steinwurf vom Bölle entfernt in einem Studentenwohnheim lebt. Vom Dach aus sieht man die Befreiungsschläge Aytac Sulus, im Gemeinschaftsraum wurde eine Leinwand samt Beamer aufgebaut. Alles ist angerichtet.

Pfingstsonntag, 17:24Uhr, Treppenhaus des Studentenwohnheims am Böllenfalltor, Darmstadt

Jetzt oder nie. Fünf Stufen auf einmal nehmend rennt, nein, fliegt der Torwart zusammen mit zwei Freunden die Treppenstufen herunter. Eurphorisiert durch das Ergebnis, im Rausch durch das Tor von Tobi Kempe. Darmstadt ist aufgestiegen. Jetzt heißt es, irgendwie an den Ordnern vorbei ins Stadion, auf den Rasen zu kommen.

17:27Uhr, Eingangsbereich des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

Leute mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen laufen orientierungslos an ihnen vorbei. "Uffstiech! Uffstiech" deliriert ein älterer Herr, der schon bei Darmstadts letztem Bundesliga-Intermezzo kein Haupthaar mehr hatte. Familienväter brechen hemmungslos weinend auf dem Weg nach draußen zusammen, durch die Gesamtsituation verängstigte und eingeschüchterte Kinder wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen. Dieser Mix aus Schock und Freude war wohl nur ähnlich groß, als Moses das Meer teilte.

Der Abpfiff liegt keine fünf Minuten zurück. Schon knapp anderthalb Minuten nach dem erlösenden Signal ist der Rasen mit Fans überflutet, die ihr Glück kaum fassen können. Selbst die Ordner an den Eingangskontrollen haben sich den Feierlichkeiten angeschlossen. Nur ganz wenige Leute strömen freudetrunken aus dem Stadion. Der Torwart und seine Begleiter nehmen den entgegengesetzten Weg.

Fotos (3): Hans-Hubertus Braune

Pfingstsonntag, 17:30Uhr, Ersatzbank des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

Der Zustand des Rasens ist, sagen wir mal, etwas gezeichnet durch die Massen an Menschen, die sich gegenseitig wild umarmen und "Nie mehr Zweite Liga" schreien. Mit Kugelschreibern stechen junge Männer Rasenstücke aus, auch an den Tornetzen wird sich zu schaffen gemacht. Im Stadioninnern haben die Ordner allerdings noch die Kontrolle über die Situation. Unterstützt durch die Staatsmacht werden die verzückten Fans davon abgehalten, den Kabinentrakt zu stürmen. Alles, was lila trägt, möchte zu seinen Helden, umarmen, gratulieren, Heiratsanträge stellen. Doch die Ordner, die ihr Glück selbst kaum fassen können, dürfen sie doch ab August in der Bundesliga ordnen, lassen niemanden durch. Der Torwart und seine Begleiter begeben sich nahe an die Absperrungen.
"Könnt ihr mir mal kurz helfen?", fragt ein Polizist, der in seinem Astronautenanzug Schwierigkeiten hat, die Absperrung zu überklettern. Der Towart und seine Kumpanen helfen dem Instrument der staatlichen Gewalt und nehmen wie selbstverständlich selber den Weg über die Absperrung. Niemand bemerkt etwas.

17:32Uhr, Eingang zum Kabinentrakt des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

Ins Stadion kommen schien vor dem Spiel unmöglich, nach dem Spiel schwierig. Vor den Kabinentrakt zu kommen hatte sich natürlich niemand vorgestellt. In dem Durcheinander von Medienleuten, Spielern, deren Angehörigen und Mitarbeitern von Darmstadt 98 schert sich niemand um den Torwart (der übrigens ein Trikot von Dominik Stroh-Engel trägt) und seine Begleiter. Eine großgewachsene Moderatorin eines bekannten Fernsehsenders bittet die drei um ein Foto. Jene, natürlich keine Unmenschen, willigen höflich ein (Anm. d. Verf.: hier verschwimmen die Notizen etwas).

Auch als Sky-Moderatorin trifft man selten auf drei solch prominente Personen

Nach dem Foto mit der Moderatorin scheint der Vormarsch unserer drei Protagonisten beendet zu sein. Vor dem Eingang zum Kabinentrakt weist ein hünenhafter Ordner die drei zurück:"Hier kommter net rein", dialektet er in breitestem Südhessisch. Selbst die Aussage, man sei von der Presse, kann nicht helfen. "De Aingang für die Press is hinne dä Tribüne", informiert der Ordner. Das lassen sich die drei flugs zu Presseleuten mutierten Protagonisten natürlich nicht zweimal sagen.

17:42Uhr, Eingang zum Pressebereich des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

"Gude, die beiden gehören zu mir", verkündet einer der Begleiter, der sich als Journalist ausgibt mit großem Selbstvertrauen (Anm. d. Verf.: es schien sich bei dem Presseorgan wahrscheinlich um eine Schülerzeitung zu handeln). Dieser mutige Vorstoß wird von einem Ordner direkt vor der Tür des Pressebereiches abgewiesen. "Für diesen Bereich benötigen Sie eine Akkreditierung, junger Mann", weist er den Neu-Journalisten zurück. Dieser entgegnet: "Meine Akkreditierung liegt im Presseraum, die beiden haben ein Gewinnspiel gewonnen. Deswegen dürfen sie mit in den Pressebereich. Lassen Sie uns bitte durch!" Frechheit siegt. Sie sind drin.

17:56Uhr, Pressebereich des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

Eine der Annehmlichkeiten, die die Angehörigkeit zur journalistischen Kaste mit sich bringt, ist der Freiverzehr in Presseräumen. Ihren harten Arbeitsnachmittag unterbrechen unsere drei Jungjournalisten mit diversen Kaltschorlen und folgen ganz nebenbei noch der kurzen Pressekonferenz mit einem bereits sichtlich angeschlagenen Cheftrainer Dirk Schuster.

Nach getaner Arbeit erstmal ein Selfie

Vom Pressebereich in den Kabinentrakt ist es im Bölle nicht weit. Hier gibt es auch keine Ordner mehr, die einem eventuell auf die Finger gucken. Alles kann, nichts muss. Wer schon so weit gekommen ist, kann auch gleich aufs Ganze gehen. Der Natur muss nach dem Genuss der kostenlosen Freigetränke erst einmal Tribut gezollt werden, weswegen sich der Torwart auf die Suche nach den sanitären Anlagen im Inneren des Stadions macht. Um ihn herum tobt bereits die Party, in der Luft liegt ein Geruch aus Schweiß und Bier. In der Heimkabine ist niemand, die richtige Party mit den Spieler steigt draußen. Trikots und andere Materialien liegen achtlos herum. Unsere Protagonisten schnappen sich die orangenen Ausweichtrikots, die bislang noch nicht in den Fängen anderer Sensationstouristen gelandet waren. Der Torwart ergattert das Trikot von Yannick Stark.


18:00Uhr, Heimkabine im Inneren des Merck-Stadions am Böllenfalltor, Darmstadt

Da, endlich! Eine Toilette! Nach kurzer, aber intensiver Suche entdeckt der Torwart endlich ein Urinal, an dem er sich erleichtern kann. Niemand scheint sich so richtig an seiner Gegenwart zu stören, weswegen er wie selbstverständlich seiner Natur nachkommt. Pinkeln auf der Toilette eines ganz frischen Bundesligisten.

Karg, aber doch stilvoll - WC in der Kabine des SVD

Mittlerweile kommen auch die ersten Spieler wieder herein. Alles riecht nach Alkohol und Bundesliga, einige haben bereits nach kurzer Zeit ihre Stimme verloren. Toni Sailer, Publikumsliebling, trägt nur noch seine Hose am Körper, alles andere wurde ihm entrissen. Unsere drei Protagonisten feiern ganz selbstverständlich mit, als wären sie Teil des Ganzen. Dominik Stroh-Engel bietet dem Torwart Flaschenbier an, ein Angebot, was nicht abgelehnt werden kann. Beides sind entscheidende Figuren ihrer Mannschaften, der eine hält entscheidende Elfmeter, der andere schießt Tore. Konversation mit Spielerfrauen wird getrieben, auch die Angetraute von Flügelflitzer Marcel Heller ist dabei. Auf die Frage, ob ihr Marcel im Bett genauso schnell sei, gibt es allerdings keine Antwort. Man hat es nicht leicht als Journalist.

Im Gang vor der Kabine steht Leon Balogun, seines Zeichens Rechtsverteidiger. Der Torwart, geistengegenwärtig, erkennt die Situation blitzschnell: "Leon, ich habe eine Wette verloren. Wenn wir aufsteigen, muss ich dich auf die Schultern nehmen." Balogun willigt problemlos ein. Der Torwart unterschätzt das Gewicht des Profis und bricht fast zusammen. Balogun kommt mit dem Schrecken davon. Da helfen auch Schienbeinschoner nichts.


Hoppe, hoppe, Reiter?

Die Party geht ungehindert weiter. Unzählige Fotos werden geschossen, Ergänzungsspieler Maurice Exslager (aufstiegserfahren durch die letzte Saison beim Effzeh, danke für die Vorlage gegen Cottbus!) ist zu erschöpft und kann sich sein Bier nicht mehr selbst öffnen. Doch Gott sei Dank eilt ihm der Torwart zu Hilfe. Nach einer knappen Vierteltunde kommt Aytac Sulu, resoluter und kompromissloser Kapitän und Verteidiger, und tut das, was er auf dem Feld am besten kann: aufräumen. "Zu wem gehört ihr?", fragt er die drei Partybiester. Deren langes Zögern ist für ihn ein klares Zeichen und er begleitet sie persönlich zum Ausgang. Aus "Nur mal Gucken" ist "Wir waren in der Kabine!" geworden. Wie würde DSF sagen? Mittendrin statt nur dabei!

22:15Uhr, Schlossgrabenfest, Darmstadt

Die Kabinenfeier ist gegenüber der ausgelassenen Stimmung auf dem Darmstädter Schlossgrabenfest ein Kindergeburtstag, Ekstase pur. Der Torwart ist natürlich mitten im Getümmel, sein neues orangenes Trikot, entwendet aus den Privatbeständen Yannick Starks, erweckt Aufmerksamkeit. Es ist im freien Verkauf nicht erhältlich und dementsprechend besonders interessant. Männliche Fans der Lilien bieten Summen, die locker für einen kleinen Urlaub reichen. Weibliche Fans versuchen es mit teilweise unmoralischen Angeboten. Der Torwart bleibt standhaft. Er wird dieses Trikot nicht mehr hergeben.

00:34Uhr, S-Bahn, Darmstadt

Müde, nicht mehr ganz nüchtern, aber trotzdem extrem glücklich nimmt der Torwart in einer S-Bahn-Platz, die ihn nach Hause bringen wird. Mittlerweile hat er das orangene Trikot angezogen. Neben ihm sitzt ein etwa gleichaltriger Mann mit langem Haar, der ihm irgendwie bekannt vorkommt. "Hey Yannick, geiles Spiel, geile Party!", richtet der Torwart das Wort an seinen Sitznachbarn. Dieser nickt und lächelt, wundert sich allerdings über die Farbe des Trikots. Beim Aussteigen fällt sein Blick auf Name und Nummer: Stark, 29. Er muss lachen.

Der Torwart erinnert sich kaum noch an den gehaltenen Elfmeter vom Vortag. Das Versprechen seiner Mutter, ihm eine Karte zu besorgen, hat er ebenfalls vergessen. Manche Sachen lassen sich allerdings sowieso nicht mit Geld bezahlen... (Arne Steinberg, http://unnatuerlichehandbewegung.blogspot.fr , Facebook-Seite hier klicken +++


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