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Gespräch mit Historiker und Ernst-Bloch-Preisträger Dan DINER
18.07.15 - "Die Stimme des Verstehens und der Vernunft redet leise. Packt heiße Kartoffeln an „Griechenland ist der Schmetterling, dessen Flügelbewegungen einen Sturm auslösen. Das Projekt Europa ist in Gefahr. Ich weiß nicht, wo die Reise hingeht“, betont der Historiker Dan Diner beim Aula-Gespräch im Ulrich-von-Hutten-Gymnasium. Der ehemalige Schüler lässt die Geschichte sprechen, um auf die quälenden Fragen der Gegenwart Antworten zu finden. „Die Krise, in der wir uns befinden, hat einen zentralen Aspekt - die Wiederkehr der deutschen Frage in anderer Gestalt.“ Es ist nicht das „katastrophische“ 20. Jahrhundert, das der Professor herbei zitiert. „Das 19. Jahrhundert rückt näher“, verblüffte der 69-Jährige seine Zuhörer und erinnerte an den Krimkrieg und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. „Bismarck erstritt die kleindeutsche Lösung.
Russland flutete zurück. Die Deutsche Einheit 1989 ist die Analogie.“ Deutschland sei heute dazu verurteilt, eine hegemoniale Rolle in Europa zu spielen wie in jenem langen Jahrhundert. Der Professor für jüdische Geschichte und Kultur und Ernst-Bloch-Preisträger zitierte den konservativen „Le Figaro“, um geschichtliche Parallelen aufzuzeigen.„Der Kampf um Griechenland hat die Existenz von zwei Europas ergeben, die völlig unterschiedlichen Logiken folgen. Das eine ist Deutsch, buchhalterisch, kompromisslos. Das andere ist Französisch, politisch, umgänglich." Die Demütigung der Griechen werde auch das deutsch-französische Verhältnis nachhaltig beschädigen.
Im 19. Jahrhundert sei es Ziel der französischen Politik gewesen, dafür zu sorgen, dass Deutschland stärker als Russland, aber schwächer als Frankreich sei. Der Preis für die Deutsche Einheit, den Frankreich einforderte, sei der Verzicht auf die D-Mark gewesen. „Jetzt wird sichtbar, was Jahrzehnte verborgen blieb. Die Währung ist die abstrakte Form von Produktivität. Die Sekundärtugenden einer Nation drücken sich in der Währung aus.“ Geprägt von der Tradition der Frankfurter Schule um Adorno und Horckheimer sagte Dan Diner: „Gleichheit führt zur Vergleichbarkeit und macht den Unterschied sichtbar. Das ist die Paradoxie der Gleichheit.“ Der unbeugsame Schäuble werde zum Prototyp des „Sale Boche“, des schmutzigen Deutschen, wie noch immer die Elsässer die Deutschen verunglimpfen. „Deutschland ist politisch und wirtschaftlich zu groß und zu stark für Europa.
Was passiert, ist der permanente Ausnahmezustand. Die Entfremdung wächst. Ein schleichender Prozess ist im Gange. Ob Frau Merkel das weiß?" Diner wünschte sich Diplomaten wie Konrad Adenauer, der einmal gesagt habe, ein Kanzler müsse sich vor der Bundesflagge einmal, vor der Tricolore aber dreimal verbeugen, um diplomatische Wege zu beschreiten. Adenauer habe immer ein Auge auf die Sollbruchstellen geworfen. Wenn die Schotten gegen Europa gestimmt hätten, wäre alles noch schlimmer gekommen.
Zum Bergwinkel hat Dan Diner eine ganz enge Beziehung. „Schlüchtern ist für mich meine Chance, meine Nostalgie und meine Schule“, sagte der Historiker. „Die Drei in Deutsch im Abiturzeugnis ist für mich aber nach 50 Jahren noch immer unerträglich."
Beim Rundgang durch die alte Schule kamen die Erinnerungen zurück. „Ohne das Ulrich-von Hutten-Gymnasium wäre ich niemals der geworden, der ich bin.“ In Schlüchtern habe es einen Aufbauzweig gegeben, wo Schüler nach der mittleren Reife ihr Abitur machen konnten. Dafür ist Dan Diner immer dankbar:„Das Gymnasium war für mich das Tor zur Welt." Für seine Verdienste um das vereinende Erbe des jüdisch-abendländischen Kulturkreises in Mittel- und Osteuropa erhielt Diner jüngst den
Wirtschafts- und Medienpreis „Heiße Kartoffel". Sein Buch „Versiegelte Zeit" über den Stillstand in der islamischen Welt ist noch immer ein Bestseller. (kel) +++