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Schockierende und bewegende Zeitzeugengespräche an Eduard-Stieler-Schule
28.07.15 - Im Rahmen des Zeitzeugenprojektes der Hessischen Landesregierung und in Vorbereitung des 25. Jahrestages der Wiedervereinigung am 03. Oktober 2015 hatte der Fachbereich Politik und Wirtschaft der Eduard-Stieler-Schule Schülerinnen und Schüler eingeladen, unter Moderation von René-André Kohl mit zwei Zeitzeugen des DDR-Regimes in Kontakt zu treten.
In einem ersten Zeitzeugengespräch begrüßte Schulleiter Dr. Drexler die 71jährige Edda Schönherz in der neu initiierten Forumsplattform „ESS talks …“ und diese berichtete von den Anfängen des „DDR-Unrechtstaates“, in dem sie als Fernsehmoderatorin und Ansagerin des DDR-Fernsehens eine herausragende Position innehatte, die ihr Kontakt zu führenden Persönlichkeiten ermöglichte und Bekanntheit auch über die Grenzen der DDR bescherte.
Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes nahm die interessierten Schülerinnen und Schüler gedanklich mit in das ehemalige sowjetische Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen in Berlin, in dem in den Nachkriegsjahren politische Gegner des Sowjetsystems inhaftiert wurden. Die Berichte aus dem „U-Boot“ schockierten die Schüler, da hier in unterirdischen, feuchten Zellen auf wenig Raum viele Gefangene einsaßen, wobei sogar deren Haare von der Feuchtigkeit schimmelten. Diese Gebäude übernahm 1951 das Ministerium für Staatssicherheit und erweiterte es 1961 zur zentralen Untersuchungshaftanstalt, einer von vieren in der DDR, die erst mit der Wiedervereinigung ihre Tore schloss.
Bewegend waren Schönherz‘ Berichte über ihre Gefangennahme wegen „Klärung eines Sachverhalts“, weil sie sich in Budapest nach den Möglichkeiten einer Ausreise erkundigte und sie infolge ihrer Verurteilung wegen „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ und „Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts in besonders schwerem Fall“ völlig von ihren Kindern und der Außenwelt isoliert wurde. Die darauf folgenden drei Jahre Haft in Hohenschönhausen und der berüchtigten Strafvollzugseinrichtung Stollberg (Hoheneck), wo sie „unter Mörderinnen“ eingesperrt war, sollten sie „brechen“ und „zersetzen“, aber sie habe ein Ziel vor Augen gehabt: die Verwirklichung der Bürger- und Menschenrechte. Gerade die Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 2. August 1975 durch die DDR in Helsinki ließ Edda Schönherz für das System „unangenehm“ werden, da sie immer wieder auf die Nichteinhaltung der Bestimmungen dieser Schlussakte verwies.
Nach ihrer Freilassung sollte sie 1977 als Hilfskraft in einer Großbäckerei beginnen, denn die DDR-Führung wollte unter allen Umständen verhindern, dass sie wieder auf den Bildschirmen zu sehen war. Die Katholische Kirche von Berlin ermöglichte es Edda Schönherz aber durch eine Anstellung als Fotografin, in Berlin zu bleiben und ihre Bemühungen um Ausreise weiter zu betreiben. 1979 öffnete sich die Grenze für die Frau, die von „Deutschland nach Deutschland“ reisen wollte, und sie fand eine Anstellung beim Bayerischen Rundfunk, wo sie wieder als Moderatorin arbeitete. Ein „Triumph“ sei es gewesen, dass während ihrer ersten Sendung im Fernsehen parallel der Staatsrat der DDR tagte. Zum Abschluss gab sie den Schülern mit auf den Weg, dass „das Vergessen zwar menschlich sei, aber politisch sehr gefährlich.“ Die Jugend sei es, auf die es ankomme, denn sie sei die Zukunft – und diese Zukunft habe das DDR-Regime immer wieder gebrochen, gefügig gemacht und somit den eigenen Untergang eingeleitet. All dies lässt sich in ihrem Roman „Die Solistin“ nachlesen.
Siegbert, „Siggi“, Schefke konzentrierte sich in einem zweiten Zeitzeugengespräch auf die letzte Phase der DDR, die aus seiner Sicht weniger vom „Klassenkampf“ geprägt war, sondern mehr vor der „Angst des Systems“. Berühmtheit erlangte Siggi Schefke durch die ersten bewegten Bilder von der Montagsdemonstration am 09. Oktober 1989, die er mit seinem Freund Aram Radomski von dem Turm der Niko-laikirche herab filmte, während westdeutsche Journalisten keinen Zugang mehr nach Leipzig hatten. Durch seinen Kontakt zu Diplomaten gelang es ihm, die Bilder in den Westen zu schleusen, wo sie direkt in der Tagesschau übertragen wurden. „Diese Aufnahmen waren gefährlich, nicht, weil sie etwas Gefährliches zeigten, sondern weil sie zeigten, dass es keine Rowdys waren, die dort demonstrierten, sondern einfache Leute – und so wurden es bei der nächsten Demonstration mehr Menschen.“
Schefke erzählte aus seiner Jugend, seinem Aufwachsen in der DDR. Seinem Unverständnis, dass er in Budapest, dem „Paris des Ostens“, Bücher kaufen konnte, die ihm an der Grenze zur DDR bei einer Kontrolle einfach abgenommen wurden. „Ich verstehe bis heute nicht, warum wir die ‚Ansichten eines Clowns‘ von Heinrich Böll nicht lesen durften. Am liebsten hätte man mir nicht nur das Buch, sondern auch mein Wissen über dieses Buch genommen.“ Es habe so viele Fragen gegeben, die einem Heranwachsenden niemand beantwortet habe. So sei ihm beim Betrachten des Stacheldrahtzaunes aufgefallen, dass dieser gegen die DDR gebogen war und nicht zur Abwehr des kapitalistischen Feindes.
Sehr detailliert und somit für die Schüler nachvollziehbar schilderte Schefke wie er die vor seiner Wohnung wartende Staatssicherheit durch eine Flucht über die Dächer der Bornholmer Straße in Berlin abhängte, um an seine Filmaufnahmen in Leipzig zu gelangen. „Abends bin ich auf dem gleichen Weg wieder zurück in meine Wohnung, ein Blick aus dem Fenster, die Staatssicherheit war noch da und am nächsten Morgen bin ich mit ihr wieder zum Bäcker gegangen.“ Gerade diese lockere und ein wenig satirische Darstellungsform führte immer wieder zu spontanen Zwischenfragen, auf die Schefke gerne einging. Auf die Frage, warum er nicht ausreisen wollte, obwohl ihm die Freiheit – Schefke wurde von 1985 an die Ausreise aus der DDR, auch in die sozialistischen Bruder¬staaten, verwehrt – so wichtig sei, gab er sein Motto zur Zeit der DDR preis: „Bleibe in deinem Land und wehre dich täglich.“
Diese Wehrhaftigkeit hat ihm wohl auch den Decknamen „Satan“ eingebracht, einer der letzten „Operativen Vorgänge“ der Staatssicherheit, die in seinem Fall neun Stasi-Aktenordner, rund 3.000 Seiten, füllt. Schefke hatte sich schon vor den Demonstrationen für das Aufdecken von Umweltverschmutzung, die Zerstörung der historischen Städte wie in Leipzig eingesetzt und Berichte für das Westfernsehen verfasst. Heute ist er für den Mitteldeutschen Rundfunk tätig und genießt die Freiheit, zu reisen, wohin ihn früher nur seine Träume geführt haben. „40 Jahre zu warten, bis ich das Brandenburger Tor von der anderen Seite sehen können sollte, waren mir einfach zu lang. Wir haben Geschichte geschrieben, sagte mein Freund Aram, als wir als einzige über die Bornholmer Brücke (Bösebrücke) nach Westen gingen. Ich antwortete, dass hinter der Biegung der Brücke ein LKW warte, der uns ins Gefängnis bringe. Wir stiegen jedoch in ein Mercedes-Taxi und fuhren in den Westen.“
Die Schülerinnen und Schüler dankten den beiden Zeitzeugen ihre Lebensge-schichte mit Beifall und kamen auch nach dem Ende der Veranstaltung noch zu per¬sönlichen Fragen zusammen, die das Verständnis eines für sie nicht mehr aktuellen Abschnitts der jungen deutschen Geschichte erleichterte (René André Kohl). +++