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Geschichts- und Kulturverein Tann (von links): Antje Dänner (Schriftführerin), Dr. Michael Imhof (Referent, Zukunft Bildung Region Fulda) und Hans-Jürgen Krenzer ( 1. Vors) -

TANN (Rhön) Wegbereiter der Moderne

Das Landjudentum in der Rhön

04.08.15 - Zum Themenabend „Juden in der Rhön. Die Bedeutung des Landjudentums für die Entwicklung der Rhön“ hatte der Kultur- und Geschichtsverein Tann in den Gasthof „Zur Krone“ eingeladen. Der Vereinsvorsitzende Hans-Jürgen Krenzer konnte rund 100 Gäste begrüßen. Der überfüllte Saal im Gasthof „Zur Krone“ spricht für das große Interesse an dem Thema.

Dr. Michael Imhof, Regionalhistoriker und Buchautor zum Thema „Judentum in der Region Fulda“ sei den Erwartungen gerecht geworden. Er spannte den Bogen vom Mittelalter bis zum Holocaust, wobei die Juden in Tann, Wüstensachsen und Gersfeld im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt standen. Diese sind im Ulstertal erstmalig 1640 urkundlich erwähnt, was aber auf eine weit längere Anwesenheit schließen lässt. Fakt ist, sie waren seit Jahrhunderten Teil der Rhön, so Imhof. Die adeligen Ritterschaften in Tann und Gersfeld boten ihnen bei Verfolgungen und Vertreibungen, wie 1671 aus der Fürstabtei Fulda, „Schutz“ und eine neue Heimat an. Dort seien sie verlässliche Steuerzahler gewesen, die für das Bleiberecht bis zu 50 Prozent höhere Steuern als die christlichen Untertanen zahlen mussten.

Die Hoffnungen, dass mit den Eroberungen Napoleons auch die Ideen der Aufklärung und die Ziele der Französischen Revolution nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auch für die Juden gelten würden, seien nur von kurzer Dauer. Mit dessen militärischen Niederlagen und dem Wiener Kongress seien die Räder der Emanzipation zunächst zum Stillstand gebracht worden oder auch zurückgedreht worden. Die Anzahl der in einer Gemeinde lebenden Juden war durch das bayerische Judenedikt von 1813 schon in einer Matrikelliste festgelegt und durfte nicht überschritten werden. So wurden die ausführlichen Anträge auf Niederlassung, Verehelichung und Eröffnung eines Gewerbes mit langwierigen Bewilligungsverfahren durch die Freiherrliche Kommission in Tann und die endgültige Entscheidung des Freiherrn verbunden.

Mit dem Anschluss der hessischen Rhön an Preußen nach dem deutsch-deutschen Krieg 1866, der Einführung der Gewerbefreiheit und der freien Wahl des Berufes und des Wohnortes änderte sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Juden in der Rhön grundlegend. Der seit langem etablierte Kleinhandel, Waren für den alltäglichen Hausgebrauch durch jüdische Wanderhändler in den weit verzweigten Streusiedlungen der Rhön über Land anzubieten, wurde erweitert durch ein breites Warenangebot in repräsentativen Kaufhäusern. Dieses Geschäftsmodell etablierte sich in allen Dörfern mit einem höheren jüdischen Bevölkerungsanteil. In einem breiten Warenangebot von städtischen Konsumgüter und technischen Errungenschaften wurde die ländliche Bevölkerung komfortabel wohnortnah bedient. Dieses reichte, so Imhof, von Textilwaren wie Anzügen, Kleidern und Mänteln bis zu Leib-, Bett- und Tischwäsche, aber auch Herde und Öfen, Fahrräder und Möbel oder landwirtschaftliche Gerätschaften und Maschinen bis zu Kosmetikartikeln und sogar Arzneimitteln.

Die Aufschriften der Rechnungsbelege der Firma Stern und Freudenthal in Tann schon von 1862 als Handlung „in Colonial-, Tuch-, Manufaktur- & Eisen-Waren“ zeigt die Entwicklung. Schon zehn Jahre später wurde in 1872 das Angebot durch Petroleum sowie Tisch-, Wand- und Hängelampen erweitert. Jüdische Kaufleute und Händler waren Wegbereiter der Moderne. Sie setzten sich für den Ausbau des Schienennetzes in die Rhön ein, gründeten schon 1826 eine Zigarrenfabrik für 50 Beschäftigte in Gersfeld. Sie engagierten sich als Gemeindeverordnete, waren oftmals Gründungsmitglieder von Sportvereinen. Stabile verwandtschaftliche Beziehungen und überregionale Verbindungen waren ein weiterer Faktor für die Herausbildung bürgerlicher Strukturen. Synagogen und eigene Schulen waren äußere Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein. In der Kaiserzeit zählte die Mehrheit der jüdischen Bewohner der Rhön zur dörflichen Mittel- und Oberschicht. Über hundert Jahre bestimmen gegenseitige Achtung und gedeihliches Miteinander – von gelegentlichen Übergriffen abgesehen - die nachbarschaftlichen Beziehung zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit. Diese machte 1885 in Tann 12,8 Prozent, in Gersfeld 8,2 Prozent und in Wüstensachen 13,8 Prozent der Bevölkerung aus. Nationalsozialistische Rassenhetze und gewalttätiger Antisemitismus bereiteten der hoffnungsvollen Symbiose ein Ende in Vertreibung, Beraubung, Völkermord und individuellem Verbrechen.

Dr. Imhof verstand es, durch die visuelle Präsentation von Dokumenten und Fotos von Häusern, Straßenzügen und Menschen seine Ausführungen mit zahlreichen neuen Akzenten zum Thema anschaulich zu gestalten. Großformatige Fotocollagen der jüdischen Landgemeinden bildeten einen eindrucksvollen optischen Rahmen des Themenabends. Am Ende stand die Verabredung zu einer Ausstellung „Das Judentum in der Rhön“ im kommenden Herbst.+++


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