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Andie Naar schaut nach vorn -

FULDA / LOS ANGELES Interview mit Ausnahmekünstlerin

Andie NAAR: "NEIN zu häuslicher Gewalt" - Video "I am gone" geht unter die Haut

INFO zur PERSONAndie Naar (33) entdeckte früh ihre Leidenschaft für Musik und ihr Talent Geschichten zu erzählen. Schon als Kind begann sie zu singen und zu schauspielern, gewann als Jugendliche diverse Gesangs- und Talentwettbewerbe in Deutschland und konzipierte ein eigenes Programm mit Musiktheaterbezug. Sie schrieb hunderte von Gedichten, Kurzgeschichten und Liedtexten und veröffentlichte einige Artikel in einer Lokalzeitung. Dann verwirklichte sie ihren Traum und studierte Musical-Theater in Hamburg, bevor sie 2008 nach New York-City umzog. Sie studierte dort am berühmten Lee-Strasberg-Institut und trat in diversen Rollen auf, bevor sie 2014 ihr Debut-Album “Moments Pass” veröffentlichte, deren Titel sie alle selbst geschrieben und komponiert hat. Ihre Musik ist eine Mischung aus Indie Folk und Alternativ-Pop, mit der sie ihre Themen wirkungsvoll in Szene setzt. Mit ihren Liedern will sie Mut zu Veränderung machen und Menschen dabei unterstützen, sich von den Lasten der Vergangenheit zu befreien

04.09.15 - Den Link mit einem Musikvideo anzuschauen, das einem ein Bekannter zugemailt hat, ist nicht ungewöhnlich. Eher selten ist man genauso fasziniert wie der Absender. Bei dem Clip "I am gone" von Andie Naar war das ganz anders: nicht nur die Musik setzte sich sofort im Kopf fest - vor allem die Bilder haben Widerhaken und lassen nicht mehr los. Dabei ist es beileibe kein angenehmes Thema, mit dem man es hier hautnah zu tun bekommt. Es geht um häusliche Gewalt - ausgeübt von dem Menschen, den man liebt.

Und obwohl einem die geschundenen Gesichter der Opfer das Herz schwer machen, gibt es Hoffnung: "Ich bin gegangen", konnten sie alle nach langer Zeit tiefer Ohnmacht sagen. Im Abspann erzählen sie, wie sie das geschafft haben und wie es ihnen heute geht. Was diesen Clip so außergewöhnlich macht, ist seine Authentizität: es ist ganz deutlich zu spüren, dass hier jemand seine eigene bittere Erfahrung entschlossen und überaus mutig öffentlich verarbeitet. Das macht neugierig: um zu erfahren, wer hinter diesem - übrigens mehrfach preisgekrönten - Video steht, habe ich per Email Kontakt nach Los Angeles aufgenommen und ein Interview mit Andie Naar geführt, die in Fulda geboren ist und bis 2005 auch hier gelebt hat.

O|N: "Wie kommt eine so junge Frau wie Du mit dem Thema häusliche Gewalt in Berührung?"

ANDIE: "Ich habe es in meinem ganzen Leben um mich herum gesehen und selbst erlebt. Häusliche Gewalt betrifft so viele Menschen, leider auch Kinder.

O|N: "Ist es wirklich – wie im Video angedeutet – eine Erfahrung am eigenen Leib?"
ANDIE: "Ja, auch wenn das Video größtenteils Fiktion ist. Ich habe mit Absicht nicht genau dargestellt, was mir passiert ist. Aber es war sehr ähnlich."

"O|N: "Kannst Du von dieser Erfahrung erzählen?" 
ANDIE: "Ich habe sowohl in Deutschland wie auch in den USA häusliche Gewalt erlebt, viele Jahre lang. Man rutscht da ´irgendwie´ rein, vor allem, wenn man noch ein Teenager ist und als Kind bereits häusliche Gewalt erlebt hat. Es ist in der Tat eine Art Teufelskreis. Anfangs glaubt man noch, dass der Freund es nicht so meint und dass es ein Unfall war. Wenn dann solche Attacken (verbal und körperlich) häufiger auftreten, redet man sich ein, dass man es wahrscheinlich verdient hat, weil man z. B. ´nicht aufgeräumt hat´, oder vielleicht wirklich ´zu nett zu dem Kellner war´, ohne es zu merken. Man schämt sich. Denn wenn man sich einmal jemandem öffnet, fragen diese Leute dann normalerweise: ´wie kannst du noch da bleiben?´ - und man kann es nicht erklären. Ich habe vieles jahrelang verschwiegen und hatte Momente, in denen ich Angst um mein Leben hatte, es gab direkte Drohungen, mich umzubringen. Ich verlor meine Lebensfreude und war nur noch ein Schatten meiner selbst. Nun sind einige Jahre vergangen und das einzige, was mich noch daran erinnert, ist eine Narbe neben meinem Auge. Da musste ich mitten in der Nacht ins Krankenhaus und genäht werden. Und selbst dort versuchte ich, das ganze zu vertuschen. Aber die Krankenschwestern und Ärzte wussten es besser. Das war ein sehr wichtiger Moment für mich: der Beginn meines Kampfes für Freiheit. Ich hätte damals fast mein Augenlicht verloren. Ich plante langsam und heimlich meine Flucht. Das zweite Mal in meinem Leben."
O|N: "Wie kamst Du auf die Idee, dieses schwierige Thema musikalisch zu verarbeiten?
ANDIE: "Ich habe Musik und Schreiben schon immer als Therapie genutzt. Mein frühstes Gedicht schrieb ich, als ich neun war. Das Lied "I am gone" entstand, nachdem ich nach LA zog und der ganze Schmerz hochkam, seltsame Gefühle, Unsicherheit, Angst - es fühlte sich anfangs garnicht so gut an, wie man meinen könnte. Eher bittersüß. Nachdem ich "I am gone" geschrieben hatte, legte ich es ´wie immer´ zu meinen hunderten von Liedern und Gedichten. Etwa ein Jahr später hatte ich die Möglichkeit, eigene Songs mit Top-Musikern aus Hollywood aufzunehmen und das zu einem sehr guten Preis. Ich entschied mich also, meine eigene CD zu produzieren. Als das Lied dann fertig aufgenommen war, kam mir die Idee für ein Musikvideo. Ich wollte Leuten damit Mut machen, dass sie entkommen können. Dass sie nicht länger Opfer sein müssen.

O|N: "War es schwer, das Erlebte in Deine Worte zu fassen?"
ANDIE: "Eher im Gegenteil, es fühlte sich gut an. Gleichzeitig merkte ich jedoch auch, dass ich mich damit sehr öffne und nicht jeder mit einem solchen Thema umgehen kann. Manche Leute sagten sogar, ich würde das Thema ausbeuten, um so zu Ruhm zu kommen. Solche Kommentare machen mich sprachlos."

O|N: "Wer sind die anderen Darsteller im Video? Sind ihre Geschichten authentisch?"
ANDIE: "Alle Darsteller, die ´mitsingen´, sind tatsächlich auch Opfer häuslicher Gewalt. Ich bin sehr stolz auf sie und bewundere ihren Mut. Der Dokuteil am Ende meines Videos zeigt einen Einblick in das Leben eines jeden. Ich wollte den Fokus auf die ´Flucht´ und das Leben ´danach´ lenken. Gefunden habe ich jeden durch Kleinanzeigen, die ich schaltete, und indem ich Organisationen kontaktierte, die Opfern helfen."

O|N: "Woher nahmen sie alle (Dich eingeschlossen) den Mut, ihr Gesicht ´dafür herzugeben´ und so offensiv damit umzugehen? (Das ist für mich übrigens genau das eigentlich Berührende an dem Clip: selbst wenn die Verletzungen geschminkt sind, wirken die Protagonisten absolut authentisch, man glaubt ihnen vor allem die große innere Veränderung, den absolut wichtigen Schritt vom Opfer zum freien Menschen !)"
ANDIE: "Ich denke, dass wir alle wussten: wir sind im gleichen Boot. Jeder wollte anderen Mut machen; die eigene Erfahrung nutzen, um einen wichtigen Aufruf in unserer Gesellschaft zu bewirken. Es passiert. Jeden Tag. Überall. Und wir müssen uns gegenseitig helfen! "

O|N: "Wie reagieren die ´Täter´?"
ANDIE: "Das ist schwer zu sagen. In meinem Fall haben sich beide irgendwann auf die eine oder andere indirekte Weise entschuldigt. Und dann doch weiter gemobbt. Ich denke, dass Täter sehr unglücklich mit sich selbst sind. Ich spüre keinen Hass oder Wut. Man muss verzeihen können, allein schon für den eigenen Seelenfrieden. Das bedeutet nicht, dass man sagt:´was du getan hast, war ok´ - sondern es ist Vergangenheit und heute entscheide ich ganz frei, wie ich mein Leben lebe und lasse es nicht von der Vergangenheit beschatten."
O|N:"Wer hat Dich bei Deiner Arbeit unterstützt und gefördert?"
ANDIE: "Ich habe gelernt, meine eigene Stütze zu sein. Vor allem im kreativen Bereich ist es einfach nicht so, dass man plötzlich ´entdeckt´ wird und andere gerne deine Projekte verwirklichen - auch wenn es Ausnahmen gibt. Ich wollte/musste es alleine schaffen. Das war ein ganz tolles Gefühl. Das Video kostete insgesamt 6.000 $, den größten Teil davon habe ich aus meinen Ersparnissen genommen. Einen Teil bezahlte ich durch Fundraising. Jeder, der Teil des Videos war (hinter oder vor der Kamera), wurde bezahlt. Mir war so wichtig, dass sich jeder respektiert fühlt und dass es professionell ist. Nachdem es fertig bearbeitet war, schickte ich es zu Filmfestivals, lud es auf Youtube hoch, kontaktierte über 200 Organisationen, die Opfern von häuslicher Gewalt helfen, um ihnen zu sagen, dass sie es gerne als Werbeclip verwenden dürfen. Ich arbeite Vollzeit und mache all das Kreative, wenn ich nach Hause komme. Aber es macht mir so viel Spaß - ich wünschte der Tag hätte mehr Stunden."

O|N: "Wie hast Du das finanziell gestemmt?"
ANDIE: "Es war nicht einfach und verzögerte das Projekt, da ich immer warten musste, bis ich wieder etwas mehr sparen konnte. Ich habe einen 14-jährigen Sohn, der zu der Zeit noch in Deutschland lebte. Eigentlich nutze ich meine Ersparnisse immer, um ihn zu besuchen. Das Video war ein Herzensprojekt und ich schaffte es irgendwie, beides zu managen."

O|N: "Wie geht es Dir privat und persönlich?"
ANDIE: "Ich kann heute aus frohem Herzen sagen: es geht mir so gut wie noch nie in meinem Leben - frei von Gewalt und Unterdrückung. Ich habe Essen und Trinken, eine Wohnung. Ganze zehn Jahre lebe ich nicht in Fulda und mein Sohn war die ganze Zeit noch dort. Ich wollte ihn schon lange bei mir haben, aber die Hürden schienen unendlich groß. Mein Sebstbewusstsein war klein, häusliche Gewalt war auch in diese Situation verstrickt, ich hatte teilweise in den Jahren kaum Geld, um mich selbst zu ernähren. Es war eine harte Zeit. In diesem Jahr wurde der größte Traum für mich wahr, als mein Sohn im Sommer zu mir zog. Mir kommen die Tränen, wenn ich nur daran denke, so glücklich macht es mich. Es fühlte sich immer an, als würde ein Teil von mir fehlen. Ja, es geht mir wirklich sehr gut. Ich habe eine feste Arbeitsstelle im Büro, aber mein Herz schlug schon immer für Musik, Geschichten und Schauspiel. Und nun habe ich eigene Wege gefunden, diese Leidenschaften zu erfüllen. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, dies zu meinem Beruf zu machen, werde ich vollends darin aufgehen. 2015 war ein bombastisches Jahr: Wiedervereinigung mit meinem Sohn, ein echtes Zuhause-Gefühl, mein erstes Musikvideo wurde in mehrere Filmfestivals aufgenommen und hat sogar gewonnen, ein Drehbuch ist geschrieben, die Produktionsfirma gegründet. Ich kann kaum erwarten, was 2016 alles Tolles passieren wird. Und ich werde definitiv aktiv daraufhin steuern. "Create your own happiness!"

O|N: "Danke, Andie für dieses - zugleich nahe und ferne- Gespräch - und alles Gute für die Zukunft!"+++ Carla Ihle-Becker
http://www.growstrongproductions.org/
www.andienaar.com
+++


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