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NSA-Skandal und Vermummungsverbot: Harte Zeiten für Nikolaus und Christkind
11.12.15 - Advent und Weihnachten prägen aus pädagogischer Sicht den schwersten Monat des Jahres. Eltern kämpfen seit Jahrzehnten mit den elementaren Fragen, ob der Adventskalender aus Schuh- oder Umzugskartons bestehen und ob zur Bescherung nur ein Mini-Van oder doch der 7,5-Tonner vorfahren sollte. Seit neuestem wird diese problematische Thematik wieder um eine längst im Keim erstickt geglaubte Diskussion erweitert: Ziehen sich Nikolaus-, Weihnachtsmann- und Christkind-Darsteller – wie von einigen Psychologen und Erziehern gefordert – ihre Kostüme erst direkt vor den Augen der Kleinen an, damit mögliche Ängste abgebaut, emotionale Hürden überwunden werden und ein Kindheitstrauma erst gar nicht entsteht? In ersten Kindergärten und Grundschulen der Region wird die Nikolausfeier so praktiziert. Eine sinnvolle, romantische und nachahmenswerte Maßnahme.
Immerhin die Hälfte der 24 Kinder der Klasse 2b einer Fuldaer Grundschule nimmt an der Nikolausfeier teil. Die anderen haben sich durch Atteste und einstweilige Verfügungen erfolgreich beurlauben lassen. Ihre Eltern befürchten nämlich psychosomatische Spätfolgen, weil ein fremder Mann ihren Kevin öffentlich fragt, warum der seine Gemüsesuppe nicht aufisst. Außerdem halten sie die NSA-Veranstaltung (Nikolaus Sieht Alles) aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht für verfassungskonform. Nikolaus Raimund, ein 52 Jahre alter Sozialpädagoge, besucht die Kleinen in Zivilkleidung mit Jeans und Pullover. Neben seinem ausführlichen Lebenslauf legt er jedem Kind sein polizeiliches Führungszeugnis sowie einen individuellen Fragenkatalog vor. Hier sind exakt die Fragen abgedruckt, die er später als Nikolaus während der Feier gedenkt zu stellen. „Ist natürlich nur ein Vorschlag“, nimmt Raimund sofort Druck aus dem emotionalen Kessel.
Von den zehn vorgegebenen Fragen dürfen die Grundschüler acht streichen und fünf nach Belieben umschreiben. Drei Fragen müssen am Ende auf dem Blatt stehen, wobei jeder später zwei Veto einlegen und einen juristischen Telefonjoker einsetzen darf. Raimund zieht nach dem gemeinsamen Kabatrinken den Nikolausbart aus seinem Jutesack. „Was fühlt Ihr dabei?“, fragt er die Kinder. Sanitäter und Psychologen stehen bereit, falls einige der Kleinen den Anblick dieses ungeheuer belastenden Verkleidungsaccessoires mental nicht aushalten. „Wollt Ihr darüber reden?“, bietet der 52-Jährige die Möglichkeit zum Dialog an. Nacheinander dürfen die Kleinen ihre Wangen an den Bart schmiegen, verbunden mit intensiven Atemübungen und autogenem Training. „Spürt Ihr seine Seele?“, fragt Nikolaus. Als er die leeren Augen der Sieben- und Achtjährigen sieht, entscheidet er sofort: „Wir lassen ihn weg.“
Jetzt zeigt Raimund sein Gewand. Es erstrahlt nicht in klassischem Rot, sondern ist ein samtiger Patchwork-Umhang aus hunderten unterschiedlicher Farben. „Rot steht für Aggression und Zorn, doch das Leben ist so bunt und mannigfaltig wie unsere religiöse und kulturelle Weltanschauung“, erläutert er die Symbolik. „Kommt Ihr damit klar?“, will der Nikolaus wissen und tauscht seine schweren Stiefel gegen leichte, lebensbejahende Niko-Flipflops mit leuchtenden Rentier-Augen. Stille. Schweigen im Klassenzimmer. „Ich gebe Euch die Zeit, die Ihr braucht“, stellt der Besucher sein pädagogisches Geschick unter Beweis.
Die Schüler ziehen sich zum Gedankenaustausch zurück. „Wir müssen das sacken lassen. Anfang April sind wir emotional vielleicht soweit“, teilt der Klassensprecher mit. Raimund ist erleichtert. „Bis dahin solltet Ihr das Gesehene verarbeitet haben“, seufzt er zufrieden und macht sich auf den Heimweg. „Aber der Sack bleibt hier“, zeigen sich die Kleinen zumindest in diesem Punkt wenig kompromissbereit und reißen die Geschenke auf, die ihre Eltern besorgt haben: Ballerspiele, Actionfilme, E-Zigaretten und Schmuddelheftchen. Der Nikolaus traut seinen Augen nicht, schnappt nach Luft und muss sich setzen. Aber auf die Grundschüler ist Verlass: „Willst du darüber reden, Raimund?“ (Jochen Wieloch)+++