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Osthessen im Feier-Rausch: Pelzige Torte, Tombola und ein Gamsbockgeweih
15.07.16 - Die heißesten Feier-Tage des Jahres sind voll im Gange: Kein Wochenende vergeht zurzeit, an dem sich die Menschen in Osthessen nicht auf irgendeinem Pfarr-, Sommer-, Sport- oder Schrebergartenfest tummeln – sorgenfrei und ganz entspannt. Knapp 70 Grad sind es im Festzelt der Pfarrgemeinde „Heilig’s Blechle“, in dem der Schweiß der Besucher in Form von Kondenswasser bächeweise von der Decke tropft. Die Frauen der Malen-nach-Zahlen-Gruppe „Grauer Star“ schleppen ihre Sahnetorten herein, die seit der Vorabendmesse in Kofferräumen und auf Hutablagen noch mal richtig durchziehen durften. „Gestern war der Überzug noch hell“, beobachten sie kollektiv ein interessantes Phänomen.
„Diese pelzige Creme auf der Tiramisu-Torte, die schmeckt so wunderbar leicht“, lobt der Pfarrer, murmelt schnell „Oh Herr verzeih mir diese Lüge“ mit einem Blick gen Himmel und legt zur Sicherheit drei „Gegrüßet seist du Maria“ nach. „Da sind mehr als 40 Eier drin“, erzählt die Dame vom Pfarrgemeinderat stolz. Weil die Zubereitung so viel Zeit in Anspruch nehme, habe sie extra schon vor einer Woche damit begonnen. Hochwürden wird heiß und kalt. Der Alleinunterhalter trällert „Aber bitte mit Sahne“, bei der dritten Strophe „Und das Ende vom Lied hat wohl jeder geahnt, der Tod hat reihum sie dort abgesahnt“ singt der Pfarrer fluchend mit, weil sich wieder mal die Bibel bewahrheitet hat: Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Torte übrig blieb, zwölf Bleche voll. Traditionell muss der Pfarrer nämlich unter den strengen Augen seiner Haushälterin die Kuchenreste vom Pfarrfest mit nach Hause nehmen und spätestens bis Erntedank verspeisen, sonst gibt’s die nächsten Wochen nichts zum Mittagessen.
Um Punkt 14 Uhr brechen alle Dämme: Startschuss für die Tombola, nach vielen Jahrzehnten mittlerweile eine Institution. Zehn Lose, 20 Euro, neun Nieten – die hochglanzpolierten Alufelgen der Gemeindesekretärin waren schließlich nicht billig. Jetzt ruhen alle Hoffnungen auf Nummer 143. Vor der Gewinnausgabe hat sich bereits eine lange Schlange gebildet, fast noch ein bisschen länger als die vor dem Zelt der Sanitäter neben dem Kuchenbuffet. „Skiunterwäsche, Größe 58, erst drei mal getragen“, berichtet ein Knirps freudestrahlend seiner Mutter. Deren Tochter schleppt überglücklich einen Atlas an. Ihr Papa schlägt das leicht staubige Buch mit Patina sofort auf, um der Siebenjährigen Deutschland zu zeigen, findet jedoch lediglich „Das Heilige Römische Reich um 1400“ und ein persönliches Vorwort vom Wittelsbacher Ludwig der Bayer.
Und die Hauptgewinne reißen nicht ab. Nacheinander wandern ein Gamsbockgeweih, ein 25-teiliges mundgeblasenes Maibowle-Set und eine olivgrüne Tischdecke aus floraler Bio-Baumwolle vorbei. „Herr Pfarrer, die habe ich Ihnen doch zu Weihnachten geschenkt. Die fanden Sie doch immer so hübsch“, traut die Pfarrhaushälterin wütend ihren Augen nicht. Ein kurzer Blick ins Essenszelt, dann ist sie milde gestimmt und greift zum Mikrofon: „Hochwürden, die nächsten neun Wochen kriegen Sie Erbsensuppe. Und Ihre Topflappen für mich zum Geburtstag, Losnummer 143.“ (Jochen Wieloch)