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Judenverfolgung und Deportation: Bewegender Schweigemarsch zum Bahnhof
07.11.18 - Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938, in der überall im Deutschen Reich die Synagogen brannten, gab es zwischen 1938 und 1942 in Fulda vier Deportationen, bei denen etwa 250 jüdische Mitbürger in Konzentrationslager des NS-Regimes abtransportiert wurden: an die polnische Grenze, nach Theresienstadt, Auschwitz. Mit einem Schweigemarsch und einer sehr bewegenden Gedenkstunde wurde am Dienstagmorgen an die Opfer von damals erinnert.
Treffpunkt war am Jerusalemplatz, wo sich früher der jüdische Friedhof befand. "Dort gegenüber war im Dritten Reich eine Turnhalle, wo die Fuldaer Juden für eine Nacht zusammengetrieben wurden", erklärte Organisatorin Anja Listmann, Lehrerin an der Badoschule, die sich seit langem mit der Materie befasst. "Am nächsten Tag wurden sie dann durch die Bahnhofstraße getrieben und oben in Wagons gepfercht." Eben diesen Weg nahmen am Vormittag auch etwa hundert Menschen - schweigend -, darunter 16 Nachkommen von Opfern von damals, die eigens aus Israel, den USA und Brasilien angereist waren.
Am Bahnhofsvorplatz waren die Fuldaer Deportationen auf Ausstellungstafeln dokumentiert. Stadtrat Wolfgang Arnold war früher Direktor an der Badoschule und hat selbst viele Projekte zum Thema durchgeführt. "Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es heute, im Jahr 2018, europaweit so viele rechtsradikale Tendenzen geben könnte. Wenn Alexander Gauland von der AfD die zwölf Jahre Nazi-Diktatur als ,Vogelschiss der Geschichte' bezeichnet, dann ist das ein dreister Tabubruch."
Organisatorin Anja Listmann beklagte, dass es in Fulda keinen Erinnerungsort gibt, der sich mit den Ereignissen von damals auseinandersetzt. "Der ehemalige jüdische Friedhof am Jerusalemplatz ist ein heruntergekommener Park, wo Hunde urinieren. Und vor der Gedenktafel an der früheren Synagoge Am Stockhaus stehen Mülleimer", sagte sie. "Wir müssen uns der Wahrheit stellen, auch wenn sie wehtut."
Vorstandsmitglied Roman Melamed betonte, dass die jüdische Gemeinde in Fulda ein wichtiger Treffpunkt sei. "Dort setzen wir uns nicht nur mit dem Holocaust auseinander, sondern feiern auch viele Feste. Wir sind eine sehr lebendige Gemeinde." Wichtiges Ziel sei es, ein weltweites Netzwerk für die Nachkommen früherer Fuldaer Juden zu schaffen.
Drei davon fanden am Bahnhofsvorplatz sehr emotionale Erinnerungsworte: Dalia Wertheim, Michael Braunold und Elli Strauss-Roden. Alle Beiträge waren in deutscher und englischer Sprache. Übersetzerin war Gisela Danner-Patt, Lehrerin an der Marienschule. - Zentrale Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht ist am kommenden Donnerstag um 18 Uhr am Platz der alten Synagoge Am Stockhaus. (Matthias Witzel) +++