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Wer hilft mir? - Symbolbild

REGION Glückliche Kindheit?

Einsamkeit schmerzt: Julia (9) steht immer allein auf dem Schulhof

Das Thema “Einsamkeit” betrifft einen bedeutenden Teil unserer Gesellschaft. Laut wissenschaftlichen Studien ist jeder 7. Mensch einsam, dabei ist Einsamkeit so ungesund wie 15 Zigaretten am Tag. Traditionelle gemeinschaftsstiftende Strukturen wie Kirchengemeinden, Vereine etc. verlieren zunehmend an Bedeutung – die Individualisierung und Isolation von Menschen nimmt auch dadurch zu. Nicht nur alte und alleinstehende Menschen sind von Einsamkeit betroffen, sondern auch viele junge Menschen

24.01.19 - Sascha ist vier Jahre alt. Jeden Morgen steht er ganz allein auf, wenn sein Wecker - leise - klingelt. Im Halbdunkel zieht er sich an, schnappt seinen Rucksack und zieht die Wohnungstür ganz vorsichtig hinter sich zu. Wenn er im Kindergarten ankommt, geht er zuerst in den Waschraum, um sich da die Zähne zu putzen. Als die Erzieherin ihn fragt, warum er das nicht zuhause macht, sagt der Knirps: "Das darf ich nicht, da würde meine Mama ja davon aufwachen - ich muss morgens ganz leise sein!" Zur Erinnerung: er ist vier.

Diesen Fall aus ihrer Praxis erzählt mir eine Erziehungsberaterin. Zum Glück haben Erwachsene hier sofort eingegriffen und der Mutter ein paar deutliche Worte gesagt - einsichtig war sie nicht. Worum es in diesem Artikel geht: Das Kind ist gar nicht auf die Idee gekommen, sich hilfesuchend an einen Erwachsenen zu wenden und um Beistand zu bitten. Viele Kinder sind mit sich ganz allein - schlimmer noch: einsam.

Aus der Rückschau eines Erwachsenen war die Kindheit ein goldenes Zeitalter: man brauchte sich keine Sorgen um die Dinge des Alltags machen, war behütet, geliebt, immer heiter und gut gelaunt. Wirklich? Der rosaroten Verklärung ihrer jungen Jahre erliegen die meisten Menschen im Lauf der Jahre. Doch wenn man in seinen Erinnerungen etwas tiefer schürft, gab es doch bei den meisten wunde Punkte - sei es Kummer über eine ungerechte Behandlung, Freunde, die plötzlich nichts mehr von einem wissen wollen oder ein nagend schlechtes Gewissen wegen einer nicht eingestandenen Schlechtigkeit. Das Leben ist nun mal kein Pilcherfilm. Doch es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen kindlichem Kummer und Leid und dem Erwachsener. Ein Kind weiß in der Regel nicht, wie es sich allein aus einer misslichen Lage befreien kann, ahnt nicht, wen es um Hilfe in der Not bitten kann. Die meisten "Großen" wissen das dagegen recht gut und haben gelernt, wie man aus einem Loch herauskommt. Kinder müssten ihr Problem überhaupt erstmal in Worte fassen können und dann einen Ansprechpartner finden, der helfen kann. Keine Kleinigkeit!

Die Eltern sind keineswegs immer die erste Anlaufstelle - auch wenn sie das glauben und sich wünschen. Unglückliche Kinder wollen Papa und Mama meistens nicht mit ihren Kümmernissen belasten, die haben ja eh so viel um die Ohren und wenig Zeit. "Ich beobachte in meiner Klasse immer häufiger, dass Kinder offensichtlich 'mutterseelenallein' gelassen werden - die Eltern sind kaputt von der Arbeit und wollen einfach ihre Ruhe haben", sagt Rosa Peter. Die 37-Jährige ist Vertrauenslehrerin an einer Fuldaer Schule. Woran macht sie fest, dass Kinder einsam sind? "Wenn wir im Unterricht Gedichte wie Tucholskys 'Augen in der Großstadt' behandeln, sagt meist nicht nur ein Kind, sondern mehrere: "Oh, das kenne ich genau: mit vielen zusammen, aber trotzdem ganz allein."

Julia ist auf dem Schulhof immer ganz allein

"Was hab ich denen denn getan?" Symbolbild

Eine von ihnen ist Julia. Auf dem Schulhof in einer kleineren Rhöngemeinde steht die 9-Jährige grundsätzlich allein. Sie wird von allen links liegengelassen oder gehänselt, den Grund dafür kennt sie nicht. "Sie sagen mir einfach, ich wäre blöd und rufen mir Schimpfworte hinterher. Aber ich habe ihnen doch gar nichts getan!", sagt sie traurig. Vielleicht wird sie ausgegrenzt, weil sie später in die Klasse kam, vielleicht, weil sie ein eher ruhiges stilles Kind ist. Vielleicht wissen die anderen Kinder selbst überhaupt nicht, was sie gegen die kleine Julia haben. "Ich glaub, sie hassen mich!", sagt sie. Für sie ist es ein unlösbares Dilemma: sie kann es niemandem recht machen und fühlt sich abgrundtief einsam. Endlich fasste sie Mut und sprach mit ihrer Lehrerin. "Ich habe richtig gezittert, weil ich Angst hatte, dass sie mir nicht glaubt", erinnert sie sich. Die Lehrerin sprach ihrerseits mit der Klasse über Mobbing und versuchte, an die anderen Kinder zu appellieren, niemanden auszugrenzen.

Nein, durch dieses Gespräch wurde leider nicht über Nacht alles besser. Zuerst wurden die Hänseleien sogar noch schlimmer. Nach dem Motto 'Du hast gepetzt!' wurde Julia noch mehr ausgegrenzt. Ihre Eltern versuchten sie aufzubauen und zu unterstützen, wenn sie unglücklich aus der Schule kam, doch die Einsamkeit blieb lange ihr einziger Begleiter. Die Lehrerin half Julia dabei, sich auf ihre Stärken zu konzentrieren und gab ihr nachhaltig das Gefühl, trotz aller Selbstzweifel ein wertvoller Mensch zu sein. "Ich war vor allem überrascht, wie reflektiert sie über ihre Misere und die dadurch ausgelösten Gefühle sprechen konnte", sagt die Pädagogin. Sich gut artikulieren zu können, ist zumindest ein Weg aus der Vereinsamung, denn nur so kann man lernen, sich jemandem zu öffnen und sich ihm anzuvertrauen. Der letzte Satz, den mir Julia  in unserem eher deprimierenden Telefonat gesagt hat, war ein Trost: "In der Schule ist es immer noch ziemlich arg, aber seit kurzem hab ich eine Freundin. Sie wohnt gleich bei mir um die Ecke." (Carla Ihle-Becker) +++


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