Premiere der Wiederaufnahme des Musicals Hair in der Stiftsruine

19.08.19 - Standing Ovations und am Ende tanzt das Publikum auf der Bühne: die Premiere der Wiederaufnahme des Musicals Hair in der Stiftsruine endet in Partystimmung. Ein voller Erfolg also!? Ein Ensemble mit herausragenden Gesangssolisten und mitreißender Choreographie, packende Bühnenmusik von einem perfekt eingespielten Ensemble, ein starkes Bühnenbild, das zugleich Raum und Rahmen schafft, eine Inszenierung ohne Längen und voller Tempo, Bilder, Zitate, Querverbindungen. Man konnte sich echt begeistern und mitreißen lassen gestern Abend in Bad Hersfeld, und das Premierenpublikum tat es auch, bis hin zum gemeinsamen Abtanzen auf der Bühne. Wieder einmal durfte man erleben, wie in Bad Hersfeld die Grenzen zwischen Stück und Wirklichkeit verschwinden, und dann ist man mitten drin im Geschehen. Was also wünscht man sich mehr?

Regisseur Gil Mehmert bezeichnet seine Inszenierung, die nun im zweiten Jahr in Bad Hersfeld gespielt wird, als „Ikonografie der 70er-Jahre“. Auch das ist ihm gelungen, mehr noch, es ist sogar die Ikonografie einer ganzen Generation, von Willy’s Jeep bis zu Jimi Hendrix, vom Spießersofa bis zur Canabisplantage, von Woodstock bis zum Ku Klux Klan, von der friedvollen Nacktheit der Blumenkinder zur bewaffneten Polizeigewalt. Aber genau hier bleibt doch der eine oder andere Wunsch offen. Ikonen sind Bilder, und Bilder sind, zumindest von außen betrachtet, unveränderlich.

So besteht die Gefahr, dass sie zu Klischees werden und damit jener Freiheit und Phantasie im Wege stehen, die „Hair“ im Jahr 1968 verkörpert hat, als das Musical am Broadway Premiere hatte. Damals reichte es aus, die Themen und die Musik der Jugend als Musiktheater zu inszenieren, um mit Klischees zu brechen. Heute ist dies so längst nicht mehr möglich. Der Bad Hersfelder Inszenierung fehlt dieser Bruch, sie bleibt bildhaft, eine unterhaltsame und etwas zu brave Aufarbeitung eines Generationenkonflikts, der bis heute doch nichts an Aktualität und Sprengkraft eingebüßt hat.

Sowohl der künstlerischen Leistung des Ensembles und der Band und Leitung von Christoph Wohlleben als auch dem Vergnügen, als Publikum dabei zu sein, tut dies jedoch keinen Abbruch. Von der ersten bis zur letzten Minute fesselt das, was da auf der Bühne abgeht. Eigentlich sind es ja zwei Bühnen, denn es gibt eine Bühne auf der Bühne, Platz der Band und im Verlauf des Stücks immer wieder Hommage an das Woodstock-Festival, den authentischen Ort des Hippie-HippieLife. Beeindrucken die stimmliche Kraft und Wandlungsfähigkeit der Solisten, allen voran Victor Hugo Barreto als Hippie Hud und dann im Glitzerkleid als Soul Diva, Bettina Mönch als Sheila und Sängerin auf der Woodstock Bühne sowie Maike Katrin Merkel als Claudes Mutter und Liz Taylor.

Großartiges Theater und eine energiegeladene Show von Anfang bis Ende. Dabei durchdringen sich die Genres. Es ist das Spiel mit der Mehrdimensionalität wie man es aus Bad Hersfeld kennt. Natürlich verbinden und durchdringen sich im Musical Gesang, Tanz und Darstellung, aber in der Bad Hersfelder Inszenierung tun dies auch die Genres Bühnenbild, Kostüme, Licht, Ton und Rezeption.

Da lässt ein Filmzitat aus „Vom Winde verweht“ Scarlett und Ashley aus dem Fernsehgerät auf die reale Bühne treten, Claudes Eltern zum Bild einer spießigen Wohnzimmerszene erstarren, und die akustische Szene von Kampfgeräuschen und Hubschraubeflügen alle räumlichen Dimensionen und Wahrnehmungsebenen einbeziehen. Das Publikum ist wieder einmal gefragt in Bad Hersfeld. Die Stiftsruine ist kein gesellschaftliches Spektakel für Smoking und Abendkleid. Das Publikum ist immer ein Teil des Ganzen hier, ist mitten drin. Und so lässt es sich am Ende denn auch vom Ensemble auf die Bühne holen zum Abtanzen. I love my Hippie-Hippie-Life. Peace! (Klaus Scheuer) +++