Archiv
Bischof Dr. Martin Hein beim Einweihungsgottesdienst - Fotos: Marius Auth

FLIEDEN Nach Renovierung und Neugestaltung

"Keine Flucht ins Vergessen": Einweihung der evangelischen Kirche Flieden

22.09.19 - Die evangelische Kirche in Flieden war ursprünglich eine jüdische Synagoge und Mittelpunkt des spirituellen Lebens der Kultusgemeinde Flieden. Um diese Geschichte und das gemeinsame religiöse Erbe zu würdigen, wurde im Zuge der umfangreichen Renovierungsarbeiten der amerikanische Künstler Barney Zeitz damit beauftragt, sechs Kirchenfenster zu gestalten, die in leuchtenden Farben vom spirituellen Neuanfang im Geist gegenseitiger Wertschätzung künden. Am Sonntag wurde die Kirche mit einem festlichen Gottesdienst eingeweiht.

Nach 13 Monaten Bauzeit sowie der Unterstützung von Gemeindemitgliedern, des Fördervereins und Sponsoren konnte die Kirche, die seit 1951 von der evangelischen Gemeinde genutzt wird, wieder in Betrieb genommen werden. Dass die Bitte um Versöhnung kein reines Lippenbekenntnis ist, stellten sowohl Pfarrer Holger Biehn als auch Bischof Dr. Martin Hein klar. Noch vor dem Gottesdienst wurde an der Kirchenpforte der grausamen Geschehnisse vor nur 81 Jahren gedacht: "9. November 1938 - Schändung dieses Gotteshauses und Demütigung der Gläubigen. Der Name Gottes wurde missbraucht. Wir bekennen unsere Schuld und fragen uns: Herr, wie war das nur möglich - dass Menschen, die jahrelang friedlich zusammlebten, mit einem Mal alle Verbindungen abbrachen, nur weil die anderen Juden waren? Mit einem Mal sahen sie weg, wenn sie ihnen begegneten. Wie war es möglich, dass Menschen, die sich immer an Recht und Ordnung gehalten haben, nichts einzuwenden hatten, als die Rechte der Juden immer mehr eingeschränkt wurden? Wie war das nur möglich, dass auch die Kirche für die unschuldig Leidenden nur vereinzelt das Wort erhoben hat? Wie war es möglich, dass Christen in den Gesichtern der Gequälten nicht die Züge von Schwestern und Brüdern erkannt haben?"

Pfarrer Holger Biehn beim Einweihungsgottesdienst

Künstler Barney Zeitz (links) mit Bischof Dr. Martin Hein

Pastor Richard Olsen aus Boston

Das Gebäude existiert seit 1875 - ursprünglich als Synagoge der israelitischen ...

Innenraum der Synagoge Flieden, etwa 1925


Bischof Dr. Martin Hein erklärte, dass nur die Kenntnis und Aufarbeitung der Geschichte davor bewahre, sie zu wiederholen: "Bis zur Nazizeit war jüdisches Leben hier in Flieden selbstverständlich und gehörte zum Ort dazu. Seit 1875 wurden in diesem Gebäude Gottesdienste gefeiert. All das wurde durch eine rücksichtslose und menschenverachtende Ideologie zunichte gemacht, der nicht nur die Parteigenossen der NSDAP anhingen. Sie breitete sich auch wie Gift in den Herzen und Gedanken vieler Christen in Deutschland aus. Es gibt für uns keine Flucht ins Vergessen: Die Shoa ist Teil unserer Geschichte. Geschichte aber, die wir vergessen wollen, wiederholt sich. Auch die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren von einer unbegreiflichen Gedankenlosigkeit geprägt. Anstatt die geschändeten Synagogen als Gotteshäuser jüdischen Glaubens zu bewahren, ging man bürokratisch-pragmatisch vor. Und so wurden in Deutschland Synagogen umgenutzt und häufig ein zweites Mal entweiht. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir als Deutsche bereit waren, nicht mehr achtlos über unsere Geschichte hinweg zu gehen." Auch der Substitutionstheologie erteilte Hein eine klare Absage: "Im Römerbrief setzt sich der Apostel Paulus mit der Bestimmung seines eigenen Volkes auseinander, dem die Verheißungen Gottes unverbrüchlich gelten. Für Paulus steht unmissverständlich fest: Nicht wir tragen die Wurzel, sondern die Wurzel trägt uns. Die Verheißungen Gottes an sein Volk sind nicht passé oder an die christliche Kirche übergegangen, Israel ist nicht enterbt, sondern wir sind als Juden wie als Christen im Tiefsten unseres Glaubens, in unserer ganzen Existenz miteinander verbunden. Erst wenn wir das begriffen haben, sprechen wir über das, was uns unterscheidet."

Der aaronitische Segen verbindet Judentum und Christentum - und wird über die sechs ...


Um die jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten bewusst herauszustellen, wurde Künstler Barney Zeitz damit bauftragt, den aaronitischen Segen, der sowohl in der Synagogenfeier als auch im evangelischen Gottesdienst genutzt wird, in sechs farbenfrohen Kirchenfenstern umzusetzen. Elemente aus Glas und Metalloxiden wurden in einem speziellen Ofen miteinander verschmolzen, im Altarraum sind die Worte "Shalom" und "Frieden" in den Fensterrahmen eingelassen. Zeitz, der seit Jahrzehnten künstlerische Glasfenster fertigt, kam durch eine schicksalhafte Begegnung zum Auftrag: Im Frühjahr 2013 besuchte eine amerikanische Reisegruppe Flieden, darunter die Jüdin Marie Ariel, deren Vater vor mehr als 100 Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde vor Ort war. Ariel kam ins Gespräch mit Pfarrer Holger Biehn, die Idee, künstlerisch gestaltete Kirchenfenster an die ehemalige Synagoge erinnern zu lassen, war geboren. Auf der Website von Zeitz fanden sich Arbeitsproben von der Gestaltung eines Tempels in Pittsburgh, die stark an die fertigen neuen Kirchenfenster in Flieden erinnern: "Dr. Thomas Fendert, Vorsitzender des Fördervereins, hat mich vor vier Jahren nach Flieden eingeladen. Nach einem Monat war dann klar, was wie gestaltet werden soll. Der aaronitische Segen wird seit tausenden von Jahren genutzt und zieht sich nun über die Fenster quer durch die Kirche. Ich glaube an Vielfalt: Wir sollten einander respektieren, unabhängig von Herkunft und Religion. Niemand muss sich ändern, jeder hat seinen Glauben", so Zeitz. (mau) +++

Pfarrer Holger Biehn an der Gitarre

Dr. Thomas Fendert, Vorsitzender des Fördervereins (rechts)

Die evangelische Kirche in Flieden wurde 1951 konsekriert


Über Osthessen News

Kontakt
Impressum

Apps

Osthessen News IOS
Osthessen News Android
Osthessen Blitzer IOS
Osthessen Blitzer Android

Mediadaten

Werbung
IVW Daten


Service

Blitzer / Verkehrsmeldungen Stellenangebote
Gastro
Mittagstisch
Veranstaltungskalender
Wetter Vorhersage

Social Media

Facebook
Twitter
Instagram

Nachrichten aus

Fulda
Hersfeld Rotenburg
Main Kinzig
Vogelsberg
Rhön