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Noch einmal diesen Rausch erleben: Der November 89 hautnah im O|N-Video
10.11.19 - Um sich – dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution der DDR-Bürger – noch einmal den kollektiven Rausch zu vergegenwärtigen, den der 9. November 1989 ausgelöst hatte, ist unsere Redaktion tief in die Archive gestiegen, hat Filmaufnahmen von OSTHESSEN|NEWS-Gründer Martin Angelstein gesichtet, die Berichterstattung der Fuldaer Zeitung ausgewertet und das Stadtarchiv Fulda um historisches Fotomaterial gebeten. Herausgekommen ist dabei eine bewegende Zeitreise in ein Land, das damals das glücklichste auf der Welt war.
Fuldaer Zeitung vom 8. November 1989
REGION. „Überfüllt“ lauteten die gestrigen Lage-Meldungen aus den vier Notunterkünften für DDR-Übersiedler in Osthessen. Die rund 1.200 Plätze in den Kasernen des Bundesgrenzschutzes in Fulda, Alsfeld, Hünfeld und Bad Hersfeld seien restlos belegt. „Manche Übersiedler haben von einem Drei-Sterne-Hotel gesprochen“, erklärte ein Beamter. „In Bad Hersfeld gefällt es den Übersiedlern so gut, dass sie nicht wieder weg wollen.“
GERSFELD. Überrascht wurden die DDR-Übersiedler auf der Wasserkuppe vom Wintereinbruch. Viele hatten nur leichte Sommerbekleidung mitgebracht. Die Verantwortlichen des Gersfelder CDU-Stadtverbandes reagierten prompt: Sie richteten im ehemaligen Kaufhaus Schüssler eine Sammelstelle ein. Gebraucht werden feste Schuhe, Hausschuhe, warme Kleider für die Kinder (7 bis 12 Jahre), Handschuhe, Schals, Mützen und Socken.
11. November 1989
MELLRICHSTADT. Was vor wenigen Wochen noch als pure Träumerei abgetan worden wäre, wurde in der Nacht zum gestrigen Freitag Wirklichkeit. An den Grenzen zur DDR gingen die Schlagbäume hoch. Die bedrückende Wirklichkeit der vergangenen 28 Jahre war urplötzlich nur noch Erinnerung. Sie wollten es nicht glauben, aber sie kamen in Scharen, um es auszuprobieren. Wen man auch fragte in der endlosen Schlange knatternder Trabis, Wartburgs und Ladas, die den ganzen Freitag aus Meiningen und Umgebung über den Grenzübergang Eussenhausen rollte: Sie alle wollten „nur mal gucken“, einfach mal „rüberfahren“ und abends wieder zurück in die Heimat.
13. November 1989
FULDA. „In ‚ner dreiviertel Stunde war’n mer durchgewunken“, erzählt das junge Pärchen. Der erste Kontakt mit Fuldaern überraschte sie: „Wir haben einen Mann gefragt, wo wir parken könnten – und da hat er uns einfach 50 Mark in die Tasche gesteckt“, erzählen beide voll Freude. Vom Begrüßungsgeld haben sie sich eine Uhr gekauft, die „drüben keener bezahlen kann“, zwei Pfund röstfrischen Kaffee und den Walkman, den sich ihre Tochter schon so lang gewünscht hat.
FULDA. Es war ein Wochenende, das niemand so schnell vergessen dürfte. Ein riesiger Besucherstrom kam aus der DDR nach Osthessen, allein in Fulda zählte man über 6.200 DDR-Bürger. Überall sah man fröhliche unbeschwerte Leute – Volksfeststimmung auf den Straßen. Bemerkenswert die spontane Hilfsbereitschaft zahlreicher Bürger; viele Geschäfte hatten geöffnet, und am Sonntag versammelten sich rund 800 Menschen zu einem Gebetsgottesdienst am Domplatz.
PHILIPPSTHAL. Viele Bürger aus der thüringischen Rhön nutzten die Chance, sich die Grenze mal von der anderen Seite anzuschauen. Kein schöner Anblick. „Das sieht ja aus wie ein Karnickelstall, rundum Gitter“, meinte die 21-jährige Katja aus Schafhausen, als sie vom Dreiländereck auf den direkt an der Grenze liegenden Ort Birx sah.
14. November 1989
FULDA. Wie ein Führungsbeamter des BGS erläuterte, sei der Kontakt zu den Volkspolizisten ausgesprochen gut. Es habe auch private Gespräche mit den DDR-Beamten gegeben.
EITERFELD. Zuvor schon hatten sich alle Fraktionen im Kreistag dafür ausgesprochen, die „Gunst der Stunde zu nutzen“ und sich intensiv um Grenzübergänge im Landkreis Fulda zu bemühen.
FULDA. In Fuldas Städtischen Kliniken hat am Samstag das „erste gesamtdeutsche Baby“ das Licht der Welt erblickt. So nennt Mutter Petra Metzner liebevoll den kleinen Simon Matthias, der wenige Stunden nach Öffnung der Grenze als DDR-Bürger in der Bundesrepublik geboren wurde.
15. November 1989
FULDA. Der Besucherstrom von DDR-Bürgern in die Barockstadt reist auch während der Woche nicht ab: 6.000 kamen allein am Dienstag.
FULDA. Die Warteschlange der Besucher, die sich hier ihr Begrüßungsgeld abholen wollten, erstreckte sich zeitweise vom Tor des inneren Schlosshofes bis zu den Spiegelsälen.
16. November 1989
FULDA. In einem Aufruf an die Fuldaer Bevölkerung bittet OB Hamberger, den DDR-Besuchern am Wochenende kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
17. November 1989
RASDORF/TANN. Die Bürgerinnen und Bürger im Landkreis Fulda und in den benachbarten DDR-Kreisen müssen noch bis Samstag warten. Dann erst sollen neue Grenzübergänge bei Rasdorf und zwei bei Tann geöffnet werden. Bei Rasdorf allerdings ist am Donnerstag bereits mit den Vorbereitungen begonnen worden. Pioniere der Nationalen Volksarmee der DDR haben das Metalltor und ein Stück der Zaunanlage beseitigt.
20. November 1989
RASDORF. DDR gab den Weg nach Fulda frei: Über 20.000 Besucher sind am Wochenende durch das neue Tor im Grenzzaun bei Grüsselbach eingereist.
FULDA. Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Hamberger setzte als erster seine Unterschrift unter den „Dankesbrief“ an Gorbatschow, den die Aktionskünstlerin Siglinde Kallnbach initiierte: „Großartig! Ein demokratischer Aufbruch des Volkes der DDR für Frieden und Freiheit. Geht den Weg bis zum guten Ende!“, schrieb der OB.
RASDORF. Mit großer Ergriffenheit hat der 61 Jahre alte Helmut Laibach aus Rasdorf das Geschehen am Grenzübergang beobachtet. „Es ist nicht zu glauben. Ich bin seit 1942 nicht mehr in Geisa gewesen. Ich habe noch viele Kindheitserinnerungen an Geisa, weiß noch genau, wo wir Füllfederhalter und Mützen gekauft haben. Geisa muss ich wiedersehen.“
RASDORF. Hupend rollte ein Auto nach dem anderen durch die Menschenreihen auf beiden Seiten der Straße, Informationsblätter, Einladungen, Zeitungen, Schokolade wurden hereingereicht, die Zuschauer klopften mit den Händen auf die Autodächer, die Fahrer drückten auf die Hupe. Das Bild wurde immer bunter.
RASDORF. Dr. Alfred Dregger: „Ich habe 40 Jahre lang über Deutschland und für Deutschland geredet, für seine Freiheit und seine Einheit, und das ist natürlich ein glücklicher Tag heute. Hier sind die Menschen von drüben, die genauso sind wie wir. Ja, das ist Freude und Glück.“
25. November 1989
FULDA. Gerade zwei Wochen ist es her, seit die erste Reisewelle aus der DDR in die Bundesrepublik schwappte. Fast 52.000 Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands haben in diesen wenigen Tagen allein die Stadt Fulda besucht.
Hier haben sie neben dem Besuchergeld ihre ersten Eindrücke vom „goldenen Westen“ erhalten, haben staunend vor dem Überangebot in den Geschäften, vor dem Luxus und Überfluss in den Schaufenstern gestanden. Noch überwältigender aber war für viele die Freundlichkeit und Herzlichkeit, mit der sie begrüßt wurden. Eine Flut von Dankesbriefen, die dieser Tage bei der Stadtverwaltung und bei der Fuldaer Zeitung einging, belegt, wie fassungslos, ja oft beschämt viele Gäste aus der DDR der Hilfsbereitschaft gegenüberstehen, die sie hier erfahren.
Für viele Briefe aus der DDR stehen folgende Zeilen, die Kerstin Just, Ehemann Rainer und Tochter Sandra (samt Dackel Anko) an Fuldas Oberbürgermeister schrieben: „Für uns war der 11.11.1989 der schönste Tag in unserem Leben. Es war unbeschreiblich, unglaublich. Wir haben jede Minute in vollen Zügen genossen und Ihre wunderschöne Stadt mit all‘ den liebenswerten Menschen in unser Herz geschlossen.“ (zusammengetragen von Matthias Witzel) +++