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Frauen im Handwerk: "Die Vorurteile sind in den Köpfen der Jugendlichen"
02.08.20 - Am 1. August ist Ausbildungsstart im Handwerk. Junge Frauen sind längst in ehemaligen Männerdomänen am Werk, Betriebe in Zeiten des Fachkräftemangels heilfroh über Verstärkung durchs vermeintlich schwache Geschlecht. Vorurteile und Vorbehalte sind heute eher in den Köpfen der Eltern und der Jugendlichen selbst zu finden, meinen zwei Handwerksexpertinnen.
Sabine Heurich-Olemotz steht in der Werkstatt an der Blechbearbeitungsmaschine und bringt den Werkstoff in Form. Die 46-Jährige hat am 1.8.1990 ihre Ausbildung zur Dachdeckerin im elterlichen Betrieb, der Arnold Heurich GmbH in Flieden, begonnen. Nach der Meisterschule und der Ausbildung zur Betriebswirtin des Handwerks ist sie seit 2000 Gesellschafterin im Familienunternehmen, inzwischen außerdem Prüfungsausschussvorsitzende der Dachdeckerinnung Fulda. Seit 30 Jahren ist Heurich-Olemotz Dachdeckerin, in der Zeit hat sich im Beruf einiges verändert: "Die Schnittstellen zum Holzhandwerk und Solarhandwerk, das Energiethema im Allgemeinen hat die Arbeit spannender gemacht. Heute beraten wir in Sachen Sanierung und KfW-Förderung. Vom Dach über die Fassade und mit unterschiedlichsten Materialien kann der Dachdecker ein Rundumpaket anbieten und ist ein gefragter Mann - und hat häufiger als früher weibliche Kolleginnen."
Technische Hilfsmittel wie Kran und Schrägaufzug zum Transport der Schindeln haben die Arbeit erleichtert, trotzdem bleibt der Beruf anstrengend: "Mal regnet es, mal ist es kalt, jetzt im Sommer sind wir gerne schon um 5:30 Uhr auf dem Dach. Im Lehrjahr 1990 war ich die einzige Auszubildende in der Berufsschule, heute sind es pro Jahr ein oder zwei Frauen. Es ist allgemein schwierig geworden, an Fachkräfte zu kommen, wie überall anders auch. Früher hat man eine Anzeige in der Zeitung geschaltet, heute wollen die Jugendlichen über poppige Imagevideos angesprochen werden. Kreativität und Selbstverwirklichung sind gefragt. Betriebspraktika bringen die meisten Azubis - in einem Jahr reinschnuppern in den Beruf, im nächsten Jahr anfangen." Vorurteile gegenüber Frauen auf dem Dach sieht Heurich-Olemotz weder bei Arbeitgebern noch bei Kollegen: "Das Thema hatte mindestens eine Generation Zeit, damit sich jeder dran gewöhnen konnte. Es zählt die gute Arbeit, die Kollegialität. Neulich hatte ich ein Gespräch mit Azubis, da meinten die jungen Männer, dass es auch ganz schön wäre, eine Frau im Team zu haben - da würde man sich ein bisschen zusammenreißen. Vorbehalte kommen eher aus dem Elternhaus: Lern was Gescheites, im Handwerk machst du dich kaputt - das hören die jungen Frauen zuhause, natürlich sind die erstmal skeptisch. Dabei haben wir die guten Argumente: sicherer Job, gute Bezahlung, Weiterbildungsmöglichkeiten."
Praktika, Tage der offenen Tür, Schulbildungsmessen und andere Möglichkeiten, die Klischees aus dem Kopf zu bekommen, sind durch Corona im zweiten Halbjahr weitgehend weggefallen, der direkte Kontakt mit den Profis ist sonst das beste Verkaufsargument. "Durch Homeschooling und Onlineunterricht war das Thema Ausbildungsstart nicht mehr wirklich in den Köpfen präsent. Viele Betriebe und Institutionen wollten wochenlang niemand Fremdes im Haus haben. Wenn die Eltern dann noch in Kurzarbeit mussten oder arbeitslos wurden, hatte man einfach anderes zu tun. Wir hatten gestern die Freisprechungsfeier der Dachdeckerinnung: elf neue Kollegen, eigentlich Standard - dieses Jahr haben wir bisher drei, die sich zur Ausbildung gemeldet haben. Obwohl der 1. August offizieller Ausbildungsstart ist, fällt vielen das Thema jetzt kurzfristig ein - erst in den letzten Tagen konnten wir einen Anstieg verzeichnen. Das ist aber grundsätzlich kein Problem - die Ausbildung kann das ganze Jahr über angefangen werden", erklärt Gabriele Leipold, Geschäftsführerin der Kreishandwerkerschaft Fulda.
Friseur- und Malerhandwerk sind traditionell bei jungen Frauen am beliebtesten, inzwischen auch das Schreinerhandwerk. Arbeitgeber seien grundsätzlich aufgeschlossen, so Leipold: "Klar gibt es immer noch offene Fragen: Ist die körperliche Arbeit nicht zu schwer? Brauche ich wegen der Arbeitsstättenverordnung eine zusätzliche Toilette oder Umkleide, wenn ich eine Frau einstelle? Aber die Aufklärung fällt heute viel leichter. Die Vorurteile sind häufig wirklich bei den Eltern oder den Jugendlichen selbst zu finden. Jeder soll heute studieren, Karriere wird gleichgesetzt mit einem Bürojob. Dass viele junge Frauen ihre Erfüllung eher im Handwerk finden würden, wird da nicht verstanden. Außerdem kann nach einer Ausbildung immer noch ein Studium drangesetzt werden - oder umgekehrt. Das ist keine Einbahnstraße. Um noch besser aufzuklären, wird das Thema 'Frauen im Handwerk' von der Kreishandwerkerschaft Fulda deswegen als Schwerpunkt gesetzt." (mau) +++