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Eine illustre Runde: von links Norbert Nachtweih, Bernhard Schmelz, Harald Irmscher, Dr. René Wiese - Fotos: Bernd Vogt

GEISA "Kalter Krieg in kurzen Hosen"

Als Norbert Nachtweih bei seiner Republikflucht in der Türkei den Bus verpasste

22.03.22 - Es war eine Verabredung mit der Geschichte. Gut gefüllt war der Vortragsraum im Haus auf der Grenze der Gedenkstätte Point Alpha. Der von Dr. René Wiese souverän moderierte Abend hatte das Thema Kalter Krieg in kurzen Hosen und beleuchtete vier Jahrzehnte deutscher Sportgeschichte - und er war kurzweilig und hielt beste Unterhaltung bereit. 

Der Einstieg hätte nicht schmackhafter sein können für Fußballfans: Auf einem Minitor hingen die Originaltrikots von Franz Beckenbauer und Harald Irmscher aus der legendären Partie zwischen der BRD und DDR bei der WM 1974 - die DDR gewann das innerdeutsche Duell seinerzeit durch Jürgen Sparwassers Tor mit 1:0. Irmscher, einstige Größe des Ostens und vor Kurzem 76 geworden, war neben dem deutsch-deutschen Fußballkenner Bernhard Schmelz aus Geisa, ebenso Gast des Abends wie der später für Eintracht Frankfurt und Bayern München erfolgreiche Norbert Nachtweih. Auch der hatte einiges zu erzählen.

Erinnerungsfoto: Harald Irmscher, ON-Fotograf Bernd Vogt, Bernhard Schmelz, Norbert ...

Ort der Geschichte: das Haus auf der Grenze, inmitten der Gedenkstätte Point Alpha ...

Die Originaltrikots des WM-Spiels 1974: links das von Franz Beckenbauer, rechts das ...

Nachtweih hat die Lacher auf seiner Seite

Als er flockig bemerkte, er habe bei der mit Jürgen Pahl initiierten Republikflucht im Rahmen eines Jugend- Europameisterschaftsturniers im türkischen Bursa den Bus verpasst, hatte Nachtweih die Lacher auf seiner Seite. In ihrer Heimat hatten sie zuvor mit dem Gedanken gespielt, "was würde passieren, wenn wir einmal die Möglichkeit hätten, in der Bundesliga zu spielen?" Auch die Wahrnehmung, "haben die im Westen andere Kameras? Das Spiel dort ist ja viel schneller", beschäftigte den in Sangerhausen geborenen Nachtweih, laut Irmscher "eines der größten Talente des DDR-Fußballs". Pahl unterhielt sich damals mit dem amerikanischen Reiseleiter, der Kontakt wurde immer intensiver. Spätabends diente ein Hotel als Treffpunkt, ein Fluchtplan wurde erarbeitet, "und dann kam die Stunde der Wahrheit", erinnert sich der heute 64-jährige Nachtweih. Ab ins Taxi. Der Taxifahrer machte große Augen, als die Botschaft, wo sie um politisches Asyl baten, das Reiseziel war. "Als ich im Taxi saß, ging mir der Hintern auf Grundeis. Allein hätte ich es nicht gemacht. Meine Eltern haben nichts gewusst." Pahl und Nachtweih mussten noch zehn Tage in Istanbul bleiben, zahlreiche Verhöre folgten, die internationale Presse hing an ihren Lippen, nicht zuletzt die aus anderen kommunistischen Ländern. "Wir hätten es nicht durchziehen können, wenn wir nicht diese Naivität gehabt hätten", sagt Nachtweih noch heute, "und wir hatten keine Angst".

Ob es in der DDR politische Schulungen gegeben habe, diese Flucht aus der Republik zu verhindern und sie in ihrem Vorfeld bereits im Keim zu ersticken? "Natürlich gab es das", antwortete Irmscher offenherzig, "die Alarmglocken haben geschrillt". Rüstig ist der 76-Jährige noch immer. Sachlich, sympathisch und informativ kommt er rüber, für jeden, der ein offenes Ohr hat, hält er etwas bereit. "Ich musste nicht weg. Uns ging es gut", sagte er. Und das klingt glaubwürdig. Auf das WM-Spiel zwischen beiden deutschen Staaten - ein Symbolbild des "Krieges in kurzen Hosen" - angesprochen, betonte er: Wir haben das nicht als Klassenkampf gesehen. Unser Trainer Georg Buschner auch nicht. Er sagte uns: Spielt Fußball." 

Manfred Ewald, Präsident der Deutschen Turn- und Sportbundes, bemerkte seinerzeit, er schicke lieber 20 Schwimmer als Fußballer in einen internationalen Vergleich. Die bringen uns 20 Medaillen. Buschner sagte seinen Spielern nur: "Zeigt, dass ihr keine Roboter seid." Denn als solche wurde die Spieler der DDR-Nationalmannschaft damals von Teilen der BRD-Presse etikettiert. "Die kürzeste Besprechung, die ich unter Buschner je erlebt habe", erklärte Irmscher.  Für die DDR-Spieler sei es vielmehr "ein Riesen-Erlebnis gewesen. Diese Begeisterung. Die Spieler und auch die Menschen kennenzulernen." Und nochmals macht sich Authentizität breit. "Wir Spieler haben wenig von der politischen Ausrichtung mitbekommen." 

"Werde mir die Stasi-Akte nicht noch einmal ansehen"

Unterdessen war Nachtweih in den Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit geraten. "Ich habe mittlerweile in meine Stasi-Akte geguckt. Sie haben uns schon beschattet, mich und meine Frau. Mir ist dabei ein bisschen anders geworden. Und ich werde es wahrscheinlich lassen, mir das nochmal anzusehen und zu vertiefen. Die paar Jahre, die ich noch habe, will ich in Ruhe schlafen."

Bernhard Schmelz tat der Veranstaltung sichtlich gut. Locker-flapsig, offen, ehrlich und gerade heraus - so kam der 74-jährige ehemalige Diplom-Landwirt aus Geisa rüber. Er kannte sich bestens aus im Fußball beider deutschen Staaten, Fan des FC Carl Zeiss Jena war er zudem. 1971 reiste er zum Länderspiel der BRD in die polnische Hauptstadt Warschau. Mit dem Zug. Von Eisenach aus. Für 65 Ostmark. 1.300 DDR-Bürger waren dabei, die deutsche Mannschaft zu unterstützen. "Da haben 80.000 die deutsche Hymne gesungen", fühlte Schmelz. Überhaupt war der Fußball Westdeutschlands bei DDR-Fans beliebter, als es der eigene, ostdeutsche Fußball, war. "Unsere Mannschaft war die BRD. Das war halt so."

Der BFC Dynamo und sein Schiedsrichter-Kollektiv

Auch Schmelz machte seine Erfahrungen, überwacht zu werden. Er habe einen Kameraden bei der Polizei gehabt, "die wissen alles und kriegen jeden", wusste er. Fünf Mitarbeiter der Stasi waren auf ihn angesetzt - vier davon aus seinem Wohnort Geisa. Das überraschte ihn nicht. Und brachte ihn noch weniger aus der Ruhe. Eine seiner Episoden spiegelte ein Stück Wirklichkeit wider. Als Abonnements-Meister BFC Dynamo, von der Stasi und seinem Chef Erich Mielke protegiert auf allen Ebenen, einst zu Gast war in Jena, sagte der dortige Stadionsprecher: "Wir begrüßen den BFC und sein Schiedsrichter-Kollektiv."

Anfangs hatte Dr. Wiese einen ebenso anschaulichen wie hautnahen Bericht über 40 Jahre deutsch-deutsche Sportgeschichte gegeben. Der Abend hatte voll ins Schwarze getroffen. Auch bei einigen Gästen aus dem Altkreis Hünfeld - wie Steinbachs Berthold Helmke, der Trainer-Legende Wolfgang Dittrich oder dem 80-jährigen Klaus Sauerbier aus Großentaft. (wk) +++


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