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"Ich möchte die Menschen mit meiner Musik erreichen"
21.08.22 - Martin Lingnau, der Komponist des Musicals "Goethe!" war am Donnerstag aus seiner Heimat Hamburg zu den Bad Hersfelder Festspielen gereist. Und gerade an diesem Tag musste die Aufführung des Musicals wegen der Erkrankung Philipp Büttners abgesagt werden. OSTHESSEN|NEWS traf den Musiker, der unter anderem von der Entstehung des erfolgreichen Musicals erzählte.
"Dieses Musical ist meine Königsklasse", sagt der sympathische Musiker beim Gespräch in einem Bad Hersfelder Café. Es sei nämlich schwerer, ein durchkomponiertes Musical zu schreiben als eines, das aus einzelnen Songs mit dazwischen liegenden gesprochenen Szenen besteht. "Goethe war ein Dichter - und auch die Musik des Musicals reimt sich", sagt Lingnau. Alle Lieder kommen in unterschiedlichen Zusammenhängen zweimal vor, beispielsweise "Träume sind wie Wasser" von Vater Goethe und "Liebe ist wie Wasser" von Vater Buff. Ein Musical ohne gesprochene Szenen sei spannender und aufregender. "Man kann viel besser mit den Motiven spielen", sagt Lingnau. "Goethe!" ist das 25. Musical des Komponisten, der 1971 in Wilhelmshaven geboren wurde und heute einer der erfolgreichsten Musical- und Filmmusik-Komponisten Deutschlands ist. Mehr als fünf Millionen Besucher haben seine Werke auf Bühnen gesehen.
Am Anfang steht die Idee
Doch ehe es überhaupt an die Komposition ging, musste erst einmal die Idee geboren werden. Gemeinsam mit Gil Mehmert, der in Bad Hersfeld auch für die Regie verantwortlich zeichnet, und dem Texter Frank Ramond war bereits das Musical "Das Wunder von Bern" entstanden. Das Trio fand sich auch für "Goethe!" zusammen. Zuerst kam die Anfrage des Musicalproduzenten Joop van den Ende, der ein neues Musical wünschte. "Uns kam die Idee, den jungen Goethe als Thema zu nehmen", so Lingnau. "Wir wollten zeigen, dass er ein Mensch wie du und ich war, der gegen den Vater kämpfte und auf der Suche nach seinem Platz im Leben war." Es gab bereits einen Film von Philipp Stölzl, auf dessen Handlung das Musical basieren sollte. "Wir hatten seitens Constantin Film nur die Maßgabe, die Geschichte nicht zu verändern", sagt er Komponist. Auch der Filmregisseur Sönke Wortmann habe sich bei Lingnaus Musical "Das Wunder von Bern" nur gemeldet, wenn ihm etwas "gar nicht gefallen" habe. Ganz anders sei es bei seinem Musical "Der Schuh des Manitu" gewesen: "Michael Bully Herbig hat sich dabei sehr engagiert."Die Verdopplung der Lieder ist laut Lingnau eine "eher seltene Musical-Architektur". "Das ist das Besondere an' Goethe!'", sagt er. Es sei eher selten, dass so gearbeitet wird. Die Musik sei sehr popmusikalisch angelegt, denn "Goethe war der erste Popstar", sagt der Komponist. Die Mischung aktueller Popmelodien, gespielt von einem großen Orchester, und den historischen Kostümen sowie der Vertonung von Originaltexten aus Goethes Feder machen laut Lingnau die Besonderheit von "Goethe!" aus. Und es gibt noch andere Konzept-Ideen, die dem Zuschauer vielleicht gar nicht auf den ersten Blick auffallen: "Durch die Schnelligkeit der Szenenwechsel ist die Energie dieses Musicals sehr hoch. Es soll in seiner Gesamtheit die Sturm- und Drang-Zeit des Dichters darstellen", erläutert der Komponist. "Goethe!" beinhaltet insgesamt 31 Nummern.
"Ein Musical ist ein lebendes Objekt"
Von der Idee bis zum fertigen Musical verging rund ein Jahr. "Ein Musical ist eigentlich nie fertig. Die Entstehung ist ein Prozess und auch für Aufführungen, die nach Bad Hersfeld stattfinden werden, möchte ich einige Punkte verändern", so Lingnau. "Ein Musical ist ein lebendes Objekt." "Goethe!" wurde bereits vor sieben Jahren zum ersten Mal gespielt - damals als Tryout an der Folkwang-Hochschule in Essen. "Durch einen Besitzerwechsel bei 'Stage Entertainment Musicals' und der Auflösung der Eigenentwicklungsabteilung hat es so lange gedauert, bis dieses Musical dann wirklich auf die Bühne kam. Das war eine Überraschung für alle", sagt der Komponist. Es habe ein anderer Weg gefunden werden müssen und der Entstehungszeitpunkt von "Goethe!" sei "unglücklich" gewesen. Dass er sein Musical im vergangenen Jahr bei den Bad Hersfelder Festpielen endlich auf einer großen Bühne erleben konnte, sei für ihn "wie eine Erlösung" gewesen. "Ein toller Ort, ein tolles Ensemble, ein tolles Orchester." Und die Ruine entfalte ihre Magie.Doch wie komponiert man eigentlich ein Musical? "Zuallererst haben wir eine Szenenfolge erarbeitet", sagt der Musiker. "Dann haben wir uns eine Liedfolge ausgedacht, damit nicht eine Ballade einer Ballade oder eine Chornummer einer Chornummer folgt." Das passierte mit Karteikarten an einem Flipchart. Im Anschluss habe sich das Entwicklertrio den Themen der Lieder zugewandt. "Manchmal ist die Musik zuerst da, manchmal der Text und manchmal ist es wie Ping-Pong und die Ideen und Entwürfe gehen zwischen Komponist und Texter immer hin und her, erklärt Lingnau. Dabei gehe immer alles Hand in Hand. Bei der Jahrmarkt-Szene beispielsweise habe Lingnau zuerst die komplette Musik komponiert, auf die dann der Text aufgesetzt wurde.
Eine einzige Chance für Musical-Songs
"Ohrwürmer sind bei einem Musical enorm wichtig", sagt der Komponist. "Ein Musical-Song hat genau EINE Chance, den Zuhörer zu erreichen." Das sei der Unterschied zu Songs, die beispielsweise häufig im Radio gespielt würden. "Ein Musicalsong muss eingängig, aber nicht banal sein. Die Melodie soll wie ein Freund zu einem kommen und der Song die Menschen einfangen", beschreibt der Musiker einen guten Musical-Ohrwurm.Bis zu den Aufführungen von "Goethe!" seien einige Lieder mehrfach umgeschrieben worden. Andere Songs wie "Es lebe das Leben" mit dem eingängigen Chor-Refrain seien "einfach da gewesen". Bei den Tryouts in Essen war schon Philipp Büttner in der Titelrolle dabei. "Mir war klar, dass Goethe ein Tenor sein würde, Lotte ein Sopran und Kestner ein Bariton", so Lingnau. Das sei eine sehr klassische Stimmlagen- und Rollenverteilung, wie man sie auch von der Oper kenne. "Aber eigentlich habe ich dieses Musical nicht für bestimmte Interpreten geschrieben", sagt Lingnau.
Beim Komponieren nutzt Martin Lingnau meist den Flügel, aber Melodien fallen ihm eher beim Spazierengehen ein. "Wenn man vor sich hinsingt, ist man nicht an das Gewohnte gebunden", sagt er. Die erdachte Melodie spielt er dann am Flügel nach. Doch heute dürfe man sich einen Komponisten nicht mehr als Mann am Klavier, der mit Bleistift Noten auf Papier kritzelt, vorstellen. Vielmehr kommen Notensatzprogramme zum Einsatz, deren Endergebnisse dann fast so klingen, wie es eine Band oder ein Orchester spielen würde. Für das große Festspielorchester in Bad Hersfeld wurde die Partitur neu arrangiert. "Wenn die Musik live gespielt wird, atmet sie ganz anders, als wenn sie vom Band kommt", sagt Lingnau.
Musical und Filmmusik: Ein riesiger Unterschied
Doch Lingnau schreibt nicht nur Musicals, sondern ist auch erfolgreicher Komponist von Filmmusiken. "Es gibt einen großen Unterschied dieser beiden Genres: Beim Musical ist man als Komponist der Mann der ersten Stunde. Beim Film ist man der Mann der letzten Stunde", so Lingnau. Beim Komponieren für Filme müsse er sich überlegen, wie er die Szene untermalen könne. "Die beste Filmmusik ist die, die man gar nicht wahrnimmt." Sehr selten käme es vor, dass die Musik zuerst komponiert werde. "Beim Dreh von ,Charité' hat dem Kameramann meine Musik so gut gefallen, dass er sie beim Drehen über Kopfhörer gehört und die Kamera der Musik angepasst hat", so der Komponist.Filme würden auch oft neu geschnitten, sodass die Musik nachträglich angepasst werden müsse. "Einfach zwei Takte rauszunehmen funktioniert meistens nicht. Denn es soll ja trotzdem noch gut klingen", so Lingnau. Der Zeitdruck bei Filmproduktionen sei enorm. "Musical und Film sind zwei ganz unterschiedliche Handwerke." Beim Musical habe der Komponist eine viel größere Verantwortung.
Daran könnte es auch liegen, dass Martin Lingnau sich viel mehr mit seinen Musicals identifiziert. "Ich versuche, sehr eingängig zu schreiben, ohne oberflächlich zu sein", sagt der Komponist. Jeder habe seine eigene Handschrift und man höre ihn immer aus seiner Musik heraus. "Aber letztendlich fordert jedes Projekt seine eigene Musik ein", sagt er. Martin Lingnau möchte Musik für die Menschen schreiben, nicht für sich. "Aber am Ende bin ich immer ich", so der Komponist. (Christopher Göbel) +++