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Der Verein für internationale Jugendarbeit: Auflösung aus Altersgründen
09.10.22 - Traurig war es, als der "Verein für internationale Jugendarbeit" sich nach 70 Jahren vor gut einer Woche auflösen musste. Der Verein, der vor allem durch die alljährliche Betreuung der "Tschernobyl-Kinder" in Bad Hersfeld und der Region bekannt wurde, hatte zuletzt noch 72 Mitglieder. OSTHESSEN|NEWS sprach mit der letzten Vorsitzenden Roswitha Alterhoff.
"Wir haben einfach keinen Vorstand mehr zusammenbekommen", sagt Alterhoff, die die erst dritte Vorsitzende in der langen Vereinsgeschichte war. Auch die Zahl der Ehrenamtlichen, welche die Aufgaben des Vereins hätte übernehmen können, ist stark geschrumpft. Gegründet wurde der Verein bundesweit bereits vor 140 Jahren, der Ortsverein in Bad Hersfeld vor 70 Jahren von Erika Schmidt-Glintzer, die auch die allererste Vorsitzende war. Ihr folgte Irene Adolph, die viele Jahre an der Spitze des Vereins stand. "Sie hat sehr viel bewirkt", so Alterhoff. Adolph lebte zuletzt im Altenzentrum Hospital und zog vor einiger Zeit nach Wiesbaden zu ihrer Familie. "Dort kann sie ihre Enkel häufiger sehen. Sie hat inzwischen auch ein Ur-Enkelkind", erzählt Roswitha Alterhoff. Sie selbst ist Prälatin im Ruhestand und gehörte dem Verein seit 1986 an. Seit 2013 war sie Vorsitzende des Vereins.
Hilfe für junge Menschen aus anderen Ländern
Der Verein für internationale Jugendarbeit widmete sich in den Anfangsjahren jungen Menschen aus aller Welt, die nach Bad Hersfeld kamen. "Das waren zuerst koreanische Krankenschwestern", erinnert sich Alterhoff. Die Vereinsmitglieder halfen dann auch Aussiedlerfamilien und boten unter anderem eine Hausaufgabenbetreuung für Kinder mit Migrationshintergrund an. Die Idee zum deutsch-türkischen Freundschaftsfest, das seinerzeit noch im Gemeindehaus der Stadtkirche am Kurpark gefeiert worden war, entstand ebenfalls beim Verein. Später entwickelte sich daraus das Internationale Freundschaftsfest, das heute in der "Interkulturellen Woche" aufgegangen ist. Mit deren Organisation hatte der Verein nichts mehr zu tun.Nach der Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1984 wurden erste Kontakte in die weißrussische Stadt Mogilew geknüpft. "Weißrussland ist zu einem Drittel verstrahlt", so Alterhoff. Sie selbst war vor einigen Jahren mit Irene Adolph dort. "Wir fuhren durch die verbotene Zone und in eine verlassene Stadt. Es war unheimlich, aber auch beeindruckend", erinnert sie sich. "Geigerzähler an den Häusern gaben den Stand der radioaktiven Strahlung an."
Gemeinsam mit einer weißrussischen Ärztin entstand die Idee, jährlich 36 Kinder aus Mogilew rund 2.000 Kilometer mit dem Bus nach Bad Hersfeld zu holen. Hier sollten sie in paar unbeschwerte Wochen verbringen. "Die Kinder waren zwischen neun und 14 Jahren alt", sagt Alterhoff. Im Laufe der Jahre waren es rund 1.000 Kinder und Jugendliche, die Sommer für Sommer nach Bad Hersfeld kamen. "Die letzte Einladung wäre im Jahr 2020 gewesen. Da ging es wegen Corona nicht", bedauert die ehemalige Vorsitzende. Heute seien aufgrund des Ukrainekrieges ebenfalls kaum Möglichkeiten gegeben, Kinder aus Weißrussland nach Hessen zu holen.
Umfangreiches Programm in und um Bad Hersfeld
Die Kinder aus Mogilew, die irgendwann in Bad Hersfeld "Tschernobyl-Kinder" genannt wurden, wohnten in der Evangelischen Jugendbildungsstätte am Frauenberg. Ausflüge in die Region, Schwimmbadtage, Besuche bei der Feuerwehr, Aktionen mit dem Kunstverein oder den Johannitern, Führungen durch den Kurpark und den Eichhof oder von Familie Brüning bezahlte Ausflüge in den Tierpark Sababurg standen dann auf dem Programm. "Die Kinder haben hier viel erlebt. Und sie haben uns mit Gesang und Tänzen auch ihre Heimat nähergebracht", so Alterhoff. Gemeinsames Kochen und Backen hatten ebenfalls für ein Zusammengehörigkeitsgefühl gesorgt.Um die Reisen und die Aufenthalte zu finanzieren - jährlich rund 30.000 Euro -, waren große Anstrengungen nötig. Basare, Waffelbacken und Waffelverkauf, "Bettelbriefe" schreiben oder bei kirchlichen Einrichtungen um Spenden anfragen gehörte zu den Aufgaben des Vereinsvorstands. "Die Nähe zur evangelischen Kirche war immer gegeben. Der Untertitel des Vereins lautete ja auch 'Arbeitsgemeinschaft christlicher Frauen'", so die ehemalige Vorsitzende. Unterstützung boten auch die Landeskirche und das Diakonische Werk.
"Es sind Tränen geflossen"
Bei der letzten Sitzung des "Vereins für Internationale Jugendarbeit" in Bad Hersfeld waren 22 Mitglieder gekommen. "Wir waren also beschlussfähig", so Alterhoff. Gemeinsam habe man dann die Auflösung beschlossen. "Das war alles sehr traurig." Sie habe auch mit einigen ehemaligen Mitgliedern telefoniert, es seien Tränen geflossen. "Unsere Freunde in Mogilew sind natürlich auch traurig", sagt Alterhoff, die immer noch in regelmäßigem Kontakt mit der weißrussischen Ärztin steht. Auch einige der Kinder, die inzwischen Erwachsene sind, haben sich in den letzten Jahren noch an ihren Aufenthalt in Bad Hersfeld erinnert und mindestens zu Weihnachten Post aus Mogilew geschickt. Das Vereinsvermögen fiel an den Zweckverband Diakonie im Landkreis Hersfeld-Rotenburg.
Zwar gibt es den Verein nun nicht mehr, aber den 1.000 Kindern, die ein paar unbeschwerte Wochen fernab ihrer von der Reaktorkatastrophe gezeichneten Region verbringen durften, werden diese Erlebnisse sicherlich in Erinnerung behalten. Und den ehemaligen Vereinsmitgliedern bleibt die Gewissheit, durch ihren Einsatz und ihr Wirken viel Gutes getan zu haben. (Christopher Göbel) +++