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Claus Peter Müller von der Grün mit seinem neuen Buch über Point Alpha - Foto: privat

REGION Point Alpha: Sehnsucht nach Freiheit

Claus Peter Müller von der Grün über sein neues Buch "Leben im Grenzbereich"

07.11.22 - "Point Alpha ist authentisch. Der Ort macht Angst – und er macht traurig. Er macht klein und verloren. Er weckt die Sehnsucht nach Schutz, nach einem sicheren Ort frei von Bedrohung und nach einem Leben in Freiheit." Über sein neues Buch, aus dem dieses Zitat stammt und über Point Alpha sprach Jutta Hamberger für OSTHESSEN|NEWS mit dem Autor, der lange Zeit als Journalist aus Hessen und Thüringen berichtete. Wir veröffentlichen das Gespräch in zwei Teilen.

O|N: Lieber Herr Müller von der Grün, warum haben Sie ein neues Buch über Point Alpha geschrieben?

Auch der ehemalige Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel gehörte zu den ...O|N-Archivbild

MvdG: "Ich wurde vom ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel darum gebeten. Er war davon überzeugt, man müsse es jetzt schreiben, solange es noch Zeitzeugen gibt. In diesem Buch bringe ich die Menschen zum Sprechen und versuche, ihre Lebensgeschichte mit der Weltpolitik und der deutsch-deutschen Geschichte zu verweben."

O|N: Haben Sie sich schon immer für deutsch-deutsche Themen interessiert?

Der Wiesenfelder Turm bot Platz für eine sechsköpfige Besatzung, die bis zum Jahr ...Foto: Point Alpha Stiftung

MvdG: "Ja. Wenn man in Kassel aufgewachsen ist, war die Grenze sehr nahe. Früher hat man hier gesagt, wir sind zwar nicht am Ende der Welt, aber wir können es schon sehen. In Kassel lebten viele, die aus der DDR geflohen waren und sich gleich hinter der Grenze wieder niedergelassen hatten. Prägend war aber auch meine Mutter, die die Bombennacht in Dresden überlebt hatte und dann vor den Soldaten der Roten Armee in die bayerische Heimat und damit gezielt Richtung Amerikaner und Freiheit geflohen war. Vieles von dem, was meine Eltern mir erzählten – über Verbrechen deutscher Soldaten an Ukrainern, über sexualisierte Gewalt, die von sowjetischen Soldaten ausgegangen war, und darüber, wie es in der sowjetisch besetzten Zone und der späteren DDR war – habe ich nicht glauben wollen, weil es so unglaublich war. Das ist das Tragische: Die unglaublichen Dinge sind unglaublich, und deshalb glaubt man sie nicht. Dann wird vieles vergessen oder heruntergespielt."

O|N: Gab es auch viel Unglaubliches in Ihren Gesprächen? Was hat Sie am stärksten berührt?

MvdG: "Nun, ich habe die Arbeit an dem Buch ja nicht ganz unvorbereitet begonnen. Unglaublich war aber schon, wenn Menschen davon berichteten, wie sie oder andere tatsächlich oder potentiell in ihrer Existenz bedroht waren, sei es am Ende des Zweiten Weltkriegs, bei der Flucht aus der DDR oder wenn ein Angriff durch das Fulda Gap Wirklichkeit geworden wäre. Das Eintauchen in die Zeitzeugen-Gespräche ermöglichte mir einen Perspektivwechsel. Ich merkte rasch, dass ich als Westdeutscher eine andere Rezeption hatte als die Ostdeutschen, mit denen ich sprach. Durch die Gespräche wurde schnell klar: Wir machen ein Buch für die Generation der Kinder und Enkel, die 1990 nicht in Erinnerung haben, damit die verstehen, was damals los war."
 
O|N: Kann Point Alpha hier nicht eine Art Fixpunkt sein?

MvdG: "Absolut. Der Ort hat eine Aura. Es gibt diesen Kontrast zwischen der schönen Landschaft und den Grenzsperranlagen. Mich macht der Ort immer still und klein, er verursacht auch Angst und Unwohlsein. Der Ort wirkt. Es wäre nur wichtig, dass auch seine Botschaft verfängt. Aber das ist schwierig – wie erinnert man? Wie weit tragen wir eine Erinnerung in uns fort und hinein in die nächste Generation? Die Herausforderung ist es, die Erinnerung an das, was war, wach zu halten, aber dort nicht stehen zu bleiben. Point Alpha fängt an mit dem Zweiten Weltkrieg und allem, was der Nationalsozialismus angerichtet hat. Die Geschichte von Point Alpha ist sodann die Geschichte der Teilung der Welt und Deutschlands in zwei Blöcke."

Weithin sichtbar sendet die Friedensspirale auf Point Alpha ihre Botschaft "Frieden" ...Fotos: Point Alpha Stiftung

O|N: Point Alpha ist also auch die Geschichte von der Freiheit?

MvdG: "Ja! Und die Geschichte, wie diese Freiheit bedroht wird und welche Kraft von ihr ausgeht. Für mich steht Point Alpha für die Überwindung von Angst und die Selbstbefreiung aus Zwängen. Es ist die große Geschichte eines wahnsinnigen Erfolgs – am Ende wurden die Machtblöcke überwunden. Die Nachkriegs-Epoche war zugleich geprägt von der Bereitschaft zur Verteidigung und zur Verständigung. Leider haben wir das schon in den 1990er Jahren vergessen. Aber wir leben seit 1945 – ohne die Kriege im früheren Jugoslawien und in der Ukraine übergehen zu wollen – in der längsten Friedensphase, die es je in nahezu ganz Europa gegeben hat. Wir erlebten seit 1945 eine Bildungs- und Wissensexplosion, der Wohlstand entwickelte sich. Unser Land ist attraktiv. Es wandern Menschen zu. Unser politisches System hat sich als vital erwiesen. Für all das ist Point Alpha ein Sinnbild. Immer wieder stellt sich an Point Alpha die Frage, wie viel Vorsicht gesund und wie viel Angst tödlich ist."

O|N: Eine Frage, die ja gerade brandaktuell ist.

MvdG: "Richtig. Point Alpha zwingt uns auch dazu, zu überlegen, wie man mit jemandem wie Hitler umgeht – so wie auch Churchill und Chamberlain sich diese Frage gestellt haben dürften – gerade mit Blick auf andere Aggressoren in der Welt. Und diese Menschen gibt es ja."

O|N: Wie sehen Sie das mit der Angst heute?

Am 17. Juni 2005: Die allerersten mit dem Point Alpha-Preis Geehrten: Michail Gorbatschow, ...Foto: Point Alpha Stiftung

MvdG: "Bei der allerersten Point-Alpha-Preisverleihung sagte Gorbatschow sinngemäß: ‚Die Zukunft Russlands wird gut sein gemeinsam mit unseren Freunden in Amerika und Europa.‘ Nur leider haben wir Russland vernachlässigt. Wir hatten sogar einmal darüber diskutiert, ob Russland in die Nato aufgenommen werden sollte! Noch zur Zeit des Kalten Kriegs gab es vertrauensbildende Maßnahmen. Was so aussah wie eine gegensätzliche Politik – Abschreckung und die Falken hier, KSZE und Brandts Ostpolitik dort – das waren zwei Seiten einer Politik, die sich gegenseitig bedingten und nur gemeinsam zum Erfolg führten. Wir brauchen die Abschreckung, und wir brauchen die Vertrauensbildung – beides haben wir sträflich vernachlässigt. Nach 1990 waren wir zu sorglos. Wir haben uns zu wenig für Russland und Osteuropa interessiert, und sind jetzt zumindest in Deutschland schwer überrascht worden."

O|N: Das eine ist das, was Russland selbst tut und getan hat, das andere das, was Deutschland nicht getan oder gesehen hat. In Osteuropa z.B. ist die Angst doch nie weg gewesen.

MvdG: "Ja, das stimmt. Man könnte die Haltung Deutschlands beinahe schon postkolonial bezeichnen. Schon der Begriff "Zwischeneuropa", der tatsächlich einmal gebräuchlich war für alles zwischen Deutschland und Russland, macht das ja klar. Das Dazwischen war wohl für manchen eine amorphe Masse und deren Schicksal den Außenstehenden ziemlich egal. Was es bedeutet, ‚Mitteleuropa‘ zu sein, wurde mir auf einer Polenreise in den 1990er Jahren bewusst. Ich spürte die missliche Lage, so mittendrin und dazwischen zu sein. Die Polen drängten darauf, in die Nato und die EU zu kommen, damit sie Sicherheit haben. Deutschland war zwar formal und geographisch Mitteleuropa, für die Polen aber ‚Westeuropa‘. Die USA waren das mächtigste Land geworden und hatten die Vormachtstellung. Und das war gut für uns, denn es dämpfte die Rivalität unter den Ländern Europas. Das war friedensstiftend."

O|N: Deutschland und Russland – was hätte geschehen müssen oder was muss jetzt geschehen?

Die Grenzanlage um 1960: Auge in Auge am „Eisernen Vorhang“ nur getrennt durch ...Foto: Point Alpha Stiftung

MvdG: "Wir hätten die Entwicklung in Russland auf jeden Fall besser beobachten und vielleicht auch anders begleiten können. Was die Situation im Moment so gefährlich macht, ist doch auch, dass wir keine Institutionen haben, in denen man miteinander sprechen kann. Die hätten wir schon aus Eigeninteresse erhalten müssen. Russland bleibt vermutlich immer anders. Es ist in seinem europäischen Teil ein orthodoxes Land, es ist vor allem in seinem asiatischen Teil riesengroß, es reicht von Königsberg fast bis Amerika. Egon Bahr hat einmal gesagt: ‚Amerika ist unverzichtbar, Russland ist unverrückbar‘, und das bleibt so. Russland bleibt unser Nachbar in Europa. Damit müssen wir umgehen. Wir wissen nicht, wohin uns der Krieg Russlands gegen die Ukraine führen wird. Hoffentlich wird die Ukraine ihre Souveränität wiedererlangen und bewahren. Hoffentlich wird das Leiden der Menschen bald ein Ende haben. Denn es leiden und sterben ja Menschen auf beiden Seiten. Zivilisten und Soldaten. Und die Soldatinnen und Soldaten beider Seiten sind Töchter und Söhne von Eltern, die ihre Kinder lieben, oder sie sind selbst Mütter und Väter, deren Kinder um das Leben der Eltern bangen. Aktuell dominieren Meldungen über militärische Erfolge und Misserfolge die Nachrichten. Ich möchte an die menschliche Dimension des Krieges erinnern. Hoffentlich wird die politische Lage, stabiler und nicht instabiler, wenn eines Tages die Waffen schweigen."

O|N: Russland bleibt anders, aber es muss wieder eine Art von Gemeinsamkeit geben, meinen Sie das?

MvdG: "Ja, es wäre grandios, wenn es Gemeinsamkeiten geben würde, wenn Russland eine Demokratie und ein Rechtsstaat würde, wie es die Bundesrepublik nach 1945 wurde. Um es unmissverständlich zu sagen: Natürlich wünschte ich mir, alle Staaten der Welt wären Demokratien, hätten eine unabhängige Justiz und eine freie Presse. Das sollte auch in Russland und Belarus so sein. Aber so ist es nicht. Und wie wahrscheinlich ist es, dass ein Land, dessen gegenwärtiger Herrscher sich an Peter dem Großen orientiert und das im Gegensatz zu anderen ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts nie eine Demokratie war, im Handumdrehen in der westlichen Zivilgesellschaft ankommen wird? Dennoch muss es eines Tages wieder möglich werden, möglichst konstruktiv und ohne Ausübung militärischer Gewalt miteinander zu sprechen, auch wenn Russland dann immer noch anders sein wird als Westeuropa. Es werden nicht alle Menschen in allen Kulturen auf dieser Welt unsere Haltungen und Grundwerte annehmen, nur weil wir von unserer Art zu leben überzeugt sind. Diese Annahme wäre naiv. Und trotzdem müssen wir versuchen, miteinander auszukommen."

O|N: Was darf man zulassen, was nicht – muss man sich die Frage neu stellen und welche Rolle kann Point Alpha dabei spielen?

MvdG: "Point Alpha lehrt, dass es sich lohnt, die eigene Freiheit und Unversehrtheit zu verteidigen, aber auch, dass dies mit Risiken und Kosten verbunden ist. Hätte sich die Ukraine nicht von Beginn an in diesem Jahr mit allen Kräften gegen den Angriff Russlands gewehrt, hätte Russland, wie wir es aktuell erleben, über kurz oder lang das nächste Land in seinem Westen überfallen. In ihrem Kampf wird die Ukraine von anderen Staaten, aber vor allem auch zivilgesellschaftlich unterstützt. Da geht es um mehr als Kleider- und Lebensmittelhilfen. Zivilisten in westlichen Ländern werten Luftaufnahmen aus, die frei zugänglich sind, und liefern Daten. Menschen in Belarus, die bisher vergeblich für ihre Freiheit gekämpft haben, haben offenbar russische Militärtransporte erschwert oder verhindert."

O|N: Das zivilgesellschaftliche Engagement fällt in einem westlichen System allerdings leichter.

MvdG: "Unbedingt. Auch das zeigt der Blick von Point Alpha aus zurück auf unsere eigene deutsche Geschichte. Im Westen haben wir unter den Bedingungen der Freiheit gelebt. Wir konnten frei recherchieren und unsere Meinung sagen. Die Friedensbewegung hat Spaziergänge zu den Sprengschächten gemacht. Es gab Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss, wir haben diese politischen Kontroversen ausgelebt und sind daran gereift. Wir haben die weltpolitische Bedrohung durch Atomwaffen wahrgenommen. In Ostdeutschland sah es anders aus. Die weltpolitische Lage war für Individuen weit weg, wie die Zeitzeugengespräche zeigen. Wer sich engagierte, wer in der Friedensbewegung war, der hatte Restriktionen im Alltag zu befürchten – Nachteile in der Schule, Behinderungen auf dem Bildungsweg."

O|N: Aber den Druck spürten nicht alle, oder?

Im Haus auf der Grenze Fotos Jutta Hamberger

MvdG: "Nein. Den spürte nur, wer sich regte. Wer nicht anstieß, wer nicht die Grenzen der Diskussions- und Konfliktkultur ausprobierte, der eckte nicht an und spürte nur wenig oder keine Repression. Point Alpha hält auch diese Botschaft für Ost und West bereit, wenn man die Geschichten der Menschen liest, die für ihre Freiheit etwas gewagt haben. Die Point-Alpha-Preisträgerin Freya Klier, ehemals Regiestudentin in Berlin, berichtet vom Friedenskreis der evangelischen Kirche in Berlin-Pankow. Dort will sie 1981 Günter Eichs ,Ein Traum‘ aufführen. Vier Personen sitzen in einem Zugabteil und wissen nicht, wohin sie fahren. Das Stück nimmt Bezug auf den Nationalsozialismus, fängt für Freya Klier aber auch die Atmosphäre der DDR ein. Der Prorektor der Hochschule sagt ihr: ‚Wenn Sie das durchziehen, müssen wir Sie exmatrikulieren‘. In Freya Klier geht es hin und her, dann spürt sie: ,Wenn ich das jetzt nicht mache, werde ich immer im Leben einen Grund finden, warum ich etwas, das mir wichtig ist, nicht mache.‘ Die Studentin wird nicht exmatrikuliert, man tat so, als sei nichts passiert."

O|N: Und was kann man vom Westen lernen?

MvdG: Wir waren in der glücklichen Lage, unsere Konfliktkultur zu trainieren, unterschiedliche Meinungen in der Debatte auszuhalten, und am Ende einen versöhnlichen Ton zu finden. Die Geschichte der Bundesrepublik – vor und nach 1990 – ist eine großartige Erfolgsgeschichte."

Zum Autor: Claus Peter Müller von der Grün wurde 1960 geboren Kassel, ist aber kein typischer Kasselaner. Denn seine Mutter kam aus Bayern, der Vater aus Westfalen. Die katholische Sozialisation in einer anderen (protestantischen) Umgebung forderte ihn früh zum Fragen heraus. Sein Berufsweg führte nach dem Studium der Journalistik über die Ruhr-Nachrichten, das ZDF-Studio in Düsseldorf schließlich zur FAZ. Als politischer Redakteur war er Korrespondent für Hessen-Thüringen. Seit 2016 ist Müller von der Grün selbständig, er begleitet und berät Entscheider. https://mueller-von-der-gruen.de/

Jutta Hamberger führte das Interview mit Claus Peter Müller von der Grün ...Foto: Nicole Dietzel, Dinias

Der zweite Teil des O|N-Interviews mit Claus Peter Müller von der Grün erscheint am 9. November 2022.
(Jutta Hamberger)+++


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