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Das aktuelle Erscheinungsbild von „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ - © Verlag

REGION Was wir lesen, was wir schauen (47)

Judith Kerr, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - Wir waren eine Insel

15.05.22 - Es gibt Bücher, die erscheinen, treffen mitten ins Herz ihrer Leser/innen, und sind über Jahrzehnte erfolgreich. Sehr oft sind es Bücher, die für eine Nation eher schmerzliche Themen aufgreifen, und nein, bequem zu lesen sind sie nicht. Eines dieser Bücher, in dem es um Flucht und Vertreibung geht, ist gerade wieder von schmerzlicher Aktualität. Deshalb möchte ich es Ihnen heute ans Herz legen.

Verbannt, vertrieben, verfemt

Die Trilogie einer Flucht und eines Neubeginns – die deutsche Erstausgabe bei Ravensburger, ...© Jutta Hamberger

Deutschland hat mit ausgegrenzten, verbotenen und verbrannten Büchern leider viel Erfahrung. Vor wenigen Tagen erst, am 10. Mai, war der Gedenktag der Bücherverbrennung 1933, als Nationalsozialisten sog. undeutsches Gedankengut dem Feuer übergaben. Einer der verfemten Autoren war der Theaterkritiker Alfred Kerr, der gleich doppelt undeutsch war – als Gegner des NS-Regimes und wuchtige intellektuelle Stimme gegen die Nationalsozialisten, und als Jude.

Seine Tochter Judith Kerr (1923-2019) war 10 Jahre alt, als die Familie Berlin verließ. Die Kerrs flohen über die Schweiz nach Frankreich, und gingen schließlich nach England. Ihre Kindheitserinnerungen verarbeitete Judith Kerr später in einer Trilogie, der erste Band "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" (1971) wurde 1974 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und verkaufte sich in Deutschland mehr als 1,3 Mio. mal. Carolin Link verfilmte den Roman 2019 fürs Kino. Judith Kerr konnte ihn leider nicht mehr sehen, sie starb kurz vorher.

Ein Buch als Türöffner

Judith Kerr im September 2016 © Christoph Rieger/Wikipedia

Judith Kerr erzählte einmal, dass die Initialzündung für das Buch von ihrem Sohn Matthew gekommen sei. Der habe "The sound of music" im Kino gesehen und zuhause erzählt, nun wisse er, wie es wohl für seine Mutter gewesen war, als die ein kleines Mädchen gewesen sei. Judith Kerr beschloss, ihre Geschichte aufzuschreiben und fand glücklicherweise sofort einen Verleger. Es kam einfach zur rechten Zeit, in England genauso wie in Deutschland. Mit Kindern hatte man damals noch so gut wie gar nicht über die Schrecken der NS-Zeit gesprochen. Das "Rosa Kaninchen" prägte eine ganze Lese-Generation in Deutschland, natürlich auch mich. Für seine Autorin war der Roman der Beginn einer Wiederannäherung an ihre Geburtsheimat. Mit dem Literaturpreis kamen Einladungen und Ehrungen, immer wieder kam Judith Kerr zu Lesungen nach Deutschland. Wichtig war ihr, jungen Menschen zu vermitteln, dass sie keine Schuld trügen, wohl aber Verantwortung übernehmen sollten im heutigen Deutschland.

Das Cover des „Rosa Kaninchen“ in der englischen Originalausgabe © Kerr Kneale Productions Ltd

Es ist ein wunderbarer, warmherziger, poetischer Roman, der einen von der ersten Zeiel an in Bann zieht. Wir sind sofort im Berlin des Jahres 1933, in der herrschaftlichen Villa im Grunewald, in der die Kerrs leben. Judith und ihr Bruder erleben trotz der politischen Wirren eine glückliche Kindheit, die jäh endet mit der Flucht. Die Atmosphäre ist unglaublich dicht, die Szenen erinnert man auch Jahre nach der Erstlektüre noch. Und ja, liebe Leserinnen und Leser dieser Kolumne, lesen Sie ruhig das "Rosa Kaninchen" nochmals – auch als Erwachsener ist das ein Genuss. Was mich heute noch mehr fasziniert als damals als Jugendlich ist die positive Energie, die das Buch ausstrahlt, dieser Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern fest daran zu glauben, dass sich alles wieder fügen werde.

Judith Kerr sagte in einem Interview anlässlich ihres 90. Geburtstags: "Ich hätte nie solche Bücher geschrieben, wenn wir nicht Flüchtlinge gewesen wären. Ich wollte das für meine Kinder schreiben, wie das damals war. Und auch an meine Eltern zu erinnern." Dabei hat sie sich selbst nie als Schriftstellerin gesehen, sondern als Illustratorin (als solche war sie in ihrer neuen Heimat Großbritannien auch bekannter, z.B. mit "Ein Tiger kommt zum Tee" und natürlich "Kater Mog").

Kinder auf der Flucht – das ist bestürzend aktuell

Bücherverbrennung 1933 – hier am Berliner Opernplatz. Auch die Schriften von Alfred ...© Wikipedia

Judith Kerrs Roman ist – in der 11. Woche des russischen Kriegs gegen die Ukraine – von neuer, erschütternder Aktualität. Knapp 6 Millionen Ukrainer/innen sind auf der Flucht, knapp 400.000 kamen bisher nach Deutschland (Stand Anfang Mai). Darunter sind sehr viele Kinder, Schätzungen gehen davon aus, dass mit 4,3 Millionen fast die Hälfte der ukrainischen Kinder auf der Flucht ist, 2,5 Millionen davon im eigenen Land. "Der Krieg hat zu einer der schnellsten und größten Fluchtbewegungen von Kindern seit dem Zweiten Weltkrieg geführt ", sagt die UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell und fährt fort: "Dieser düstere Meilenstein kann langfristige Auswirkungen auf eine ganze Generation haben. Die Sicherheit der Kinder, ihr Wohlergehen und ihr Zugang zu lebenswichtiger Unterstützung ist durch die andauernde schreckliche Gewalt bedroht."  Was das bedeutet, wie man in der Fremde ankommt und eine neue zeitweilige Heimat findet, das kann man in "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" nacherleben.

Verbannte Bücher – leider ebenfalls bestürzend aktuell

Ein Flugblatt aus dem Jahr 1933. Es stammt aus Würzburg und fordert dazu auf, Bibliotheken ...© Wikipedia

In den USA stand Harper Lees 1960 erschienener Roman "To kill a mockingbird” bis vor kurzem auf dem Lehrplan aller Colleges und Highschools. Seit 2020 allerdings nicht mehr, weil darin das ominöse N-Wort vorkommt und weil Anwalt Atticus Finch als "weißer Retter" dargestellt wird. Ein Irrweg der Identiätspolitik! Mich machen solche Entscheidungen sprachlos. In diesem Fall erfolgte die Löschung aus dem Lehrplan zwar aus wohlmeinenden Gründen, geht aber vollkommen am Kern der Sache vorbei. Wir können und müssen es aushalten, dass Bücher Dinge anders beim Namen nennen, als wir selbst es tun würden. Das ist keine intellektuelle Großtat, sondern ein normaler Prozess, wenn man sich mit Büchern befasst, die einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Die ‚Löschung‘ des N-Wortes aus allen Texten löscht doch nicht den Rassismus und die Verachtung, mit der dunkelhäutige Menschen jahrhundertelang von Weißen behandelt wurden. Ja, es ist ein vergiftetes Wort, und genau deshalb muss man sich ihm stellen. 

Noch besorgniserregender finde ich, dass die American Library Association ALA inzwischen eine Liste von 1.600 Büchern aufgestellt hat, bei denen verlangt wurde oder wird, dass sie aus Bibliotheken entfernt werden oder die schon entfernt wurden. Auch hier geht es darum, unliebsame historische Ereignisse oder gesellschaftliche Entwicklungen zu kaschieren oder totzuschweigen. Besonders viele der angegriffenen Bücher befassen sich nämlich mit der Geschichte der schwarzen Bevölkerung in den USA, mit dem Thema Homosexualität oder Geschlechtergerechtigkeit.

Judith Kerr © Ravensburger Verlag / T. Ehling

Nein, sind keine angenehmen Themen, und die amerikanische Geschichte läse sich ohne sie bedeutend entspannter und rosiger. Nur: Bücher entfernen entfernt nicht die historischen Tatsachen, nicht das Leid, nicht das Unrecht, nicht die Diskriminierung. Bundesstaaten wie Texas, Florida und Virgina haben inzwischen viele Gesetze erlassen, die die Entfernung von Büchern erleichtern. Wieder einmal wird eine Art konservativer Kulturkampf in den USA ausgetragen. Das Gute ist: Diese "Challenges" haben oft keinen Erfolg, gerade in Zeiten von Social Media und Internet kommt es oft zum umgekehrten Effekt und diese Bücher sind besonders erfolgreich. Es gilt der Satz von Erfolgsautor Stephen King: "Lest, was auch immer sie vor euren Augen und eurem Gehirn verbergen wollen. Denn das ist genau das, was ihr wissen müsst."

Der Autorin zuhören: Judith Kerr liest aus "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl"

https://www.theguardian.com/books/2019/may/23/judith-kerr-beloved-author-of-the-tiger-who-came-to-tea-dies-aged-95

(Jutta Hamberger)+++


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