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Trost in der Katastrophe: Über die Kunst, Menschen mitfühlen zu lassen
01.12.22 - Als am 19. Dezember 2016 ein islamistischer Terrorist mit einem Sattelzug über einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste, 13 Menschen in den Tod riss und 67 weitere zum Teil schwer verletzte, war die in Tann geborene Künstlerin Siglinde Kallnbach, die aber schon lange in Köln lebt, wieder einmal zu Besuch in Fulda. Kurzentschlossen sammelte sie bei den Passanten in der Bahnhofstraße und am Weihnachtsmarkt schriftliche Bekundungen der Empathie und der Solidarität. Auch im ICE auf der Rückfahrt und dann in Köln und Bonn ebenfalls auf den dortigen Weihnachtsmärkten.
Die vielen aufbauenden Worte, die den Menschen damals auf der Seele brannten, schickte Siglinde Kallnbach zum Regierenden Bürgermeister von Berlin, um sie an die Hinterbliebenen weiterzuleiten. Diese Aktion war Teil eines Kunstprojekts, das die 66-Jährige seit über 20 Jahren um- und antreibt. "A performancelife" heißt es, und Teile davon sind seit Mittwoch im Vonderau Museum zu sehen – zusammen in einer Doppelausstellung mit ihrem langjährigen Kölner Künstlerkollegen Jürgen Raap.
Der Kern des Kunstprojekts "A performancelife" besteht darin, dass Siglinde Kallnbach Unterschriften oder kurze Statements zur Bekundung von Mitgefühl auf Leinwänden unterschiedlicher Größe, Textilien und anderen Bildträgern sammelt. Ursprünglich, ab 2000, ging es um Empathie und Solidarität mit Krebskranken, später erweiterte sie das Projekt auf andere Opfer, nämlich die von Naturkatastrophen, Kriegen, Terroranschlägen oder der Corona-Pandemie.
Diese Objekte in orginaler und in transformierter Form schickt sie an Betroffene bzw. deren Familien oder stellvertretend an Repräsentanten betroffener Regionen sowie an Helfer. Dieses Projekt sowie ihr gesamtes Werk setzt sich in komplexer Weise mit politischer und gesellschaftlicher Gewalt und dem Gegenpol Empathie und Solidarität auseinander. Aufgrund ihrer Arbeit wurde die Künstlerin von rechts wie links angefeindet und sogar bedroht.
Sie sei "eine Künstlerin mit Ecken und Kanten", stellte Bertram Hilgen, ehemaliger Oberbürgermeister von Kassel, fest, der ebenfalls aus Tann stammt und mit Siglinde Kallnbach, die an der Kunsthochschule in Kassel studiert hat, so manchen Disput über die documenta ausgetragen hat. Und Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld würdigte ihre Kunst, "die sich einmischt und eine Aufforderung ist, Haltung zu zeigen". Wie übrigens auch nach dem Mord an Walter Lübcke.
Zweiter Teil der Doppelausstellung: Jürgen Raaps "Wunder der Anatomie"
"Jürgen Raaps Malerei mit Acryl-Öl-Bildern stehen in der Tradition eines surreal-phantastischen Realismus. Der Obertitel "Wunder der Anatomie" und die Motive beziehen sich auf die Kunst- und Wunderkammern als Vorläufer der heutigen Museen und auf die Schausammlungen zur Anatomie, Ethnologie und Naturkunde in Universalmuseen. Manche Exponate reflektieren auch die Performances von Siglinde Kallnbach, übersetzen anhand von Fotovorlagen zeitbasierte Kunst in Malerei. Kombiniert wird diese Ikonografie bisweilen mit Anspielungen auf die trivialen Kuriositätenkabinette auf den Rummelplätzen früherer Epochen und mit Bildhintergründen, die Rhönlandschaften oder urzeitliche Landschaften darstellen, die von Reptilien bevölkert werden."So steht es auf der Homepage des Vonderau Museums. Zu ergänzen ist, dass Jürgen Raaps Gemälde dort mitten in der Naturkundeausstellung untergebracht sind, wo sie eine tolle Wirkung entfalten. Zur aktuellen Debatte um Klima-Aktivisten, die ihr Unwesen in Museen treiben, sagte der Künstler: "Diese Form von zivilem Ungehorsam ist der völlig falsche Weg. Das verprellt nur die Leute." (mw) +++