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Trainer Alex Bär: Zwischen Ideologie, Glücksmomenten und Unberechenbarkeit
24.02.23 - Am Sonntag nehmen auch die Fußballer des SV Neuhof die Restrunde der Hessenliga auf. Zu Gast in der Glückauf-Kampfbahn ist der Tabellenzweite FC Gießen; Anstoß: 14.30 Uhr. "Ich bin selbst sehr gespannt, wie sich die Mannschaft präsentiert", sagt Trainer Alexander Bär vor dem Vergleich des Außenseiters gegen den Aufstiegsanwärter.
Der Coach geht von vier Absteigern aus, da aus der höherklassigen Regionalliga kein hessisches Team runterkäme - sechs Punkte beträgt der Rückstand des SVN dann nach derzeitigem Stand, den Klassenerhalt noch zu realisieren. In der Vorbereitung habe Bär "Positives und Negatives" gesehen. Defizite gibt es im körperlichen, konditionellen und physischen Bereich ("da müssen wir in den nächsten zwei, drei Wochen noch nachhholen") - was den 51-Jährigen erfreut, schiebt er nach: "Die Mannschaft ist motiviert, das Ziel zu erreichen. Ich habe ein gutes Teambuilding festgestellt."
"Können nur gewinnen. Kader ist kleiner und jünger geworden"
Der Kader des SVN ist "ein bisschen kleiner und jünger geworden", bemerkt der Trainer, "wir haben keine besonders erfahrenen Spieler, auch keine Unterschiedsspieler. Wir werden über die mannschaftliche Geschlossenheit kommen". Vor dem ersten Spiel um Punkte in diesem Jahr verleitet es Bär zur spannenden Bemerkung, er sei selbst gespannt, wie sich seine Mannschaft gegen den Favoriten präsentiere. Es sei gegen solche Teams immer wichtig, gut gegen den Ball zu arbeiten und zu verschieben. "Ich habe Respekt. Aber keine Angst." Die Aufgabe am Sonntag sei "ein Spiel, in dem man nur gewinnen könne. In dem man Zusatzpunkte holen könne".
Bär weiß, dass sein Team unberechenbar daherkommt. Seine folgende Bemerkung taugt fast zu einer an eine Schlosstür eingebrannte These: "Wir können jeden schlagen. Aber auch gegen jeden verlieren." Erfolgserlebnisse beim Spitzenreiter Eintracht Frankfurt U21 und dem Tabellendritten Türk Gücü standen in der Vorrunde Misserfolge gegen direkte Konkurrenten gegenüber. Letztgenannte gab es zu viele, und der Coach befürchtet "Parallelen zur Vorrunde". Dass sein Team Fehler anbot, die bestraft wurden - und im Gegenzug eigene Chancen selten nutzte. Bär drückt das so aus: "Es wird immer eine Handvoll Chancen geben. Du musst hoffen, dass du sie nutzt."
Die besondere Motivation, das Gegenteil zu beweisen
Neuhofs Trainer könnte das "spezielle Kapitel SVN" nicht machen, wenn er keinen Optimismus mehr hätte. "Ich traue uns auch einen Sieg gegen den FC Gießen zu." Vielleicht hilft seinem Team der nicht eben im Top-Zustand befindliche Platz, "aber nur dann, wenn du bereit bist, dich ins Spiel reinzukämpfen" - Mittel, mit denen der David den Goliath schlagen könne. "Kaum einer mehr wird einen Pfifferling auf uns geben. Aber unsere Motivation ist, das Gegenteil zu beweisen. Und auch ein fünftes Jahr in der Hessenliga zu spielen."
Jeder weiß: Fußball beim SV Neuhof - das ist speziell. Eine besondere Geschichte. Nichts Alltägliches in Osthessen. Aus der Distanz kann es kaum jemand nachvollziehen, was Alex Bär antreibt, sich derart zu engagieren. Seit Jahren schon begleitet ihn ein Gefühl. Ein Bauchgefühl. Wie das jetzt sei - vor Aufnahme der Restrunde? "Auf der einen Seite reizvoll. Weil du immer wieder neue Gesichter begrüßen und die Spieler auf höchstem Niveau zu einer Mannschaft formen kannst. Doch das Gefühl ist zweischneidig. Mit unseren Mitteln, die wir in Neuhof vorfinden, ist diese Aufgabe fast unlösbar. Das zermürbt einen mit den Jahren."
Im vierten Jahr in der Hessenliga - mit Kreisoberliga-Strukturen
Die hohe Fluktuation im Kader - der zu großen Teilen mit höherklassigen und ausländischen Spielern bestückt ist - benennt Bär so: "Wenn wir in den Wechselperioden 50 Prozent der Spieler halten und 50 Prozent erneuern, können wir zufrieden sein." Letztendlich sei es eine Ideologie, schließlich führe Fußball die Menschen zusammen, verbinde sie. "Das gibt einem Glücksmomente, wenn man es schafft", sagt Bär nicht ohne Stolz, "wir sind im vierten Jahr in der Hessenliga - mit Kreisoberliga-Strukturen".
Dennoch gibt er sich keinen Illusionen hin. Realist war er schon immer. "Der Verein selbst und auch das Interesse drumherum sind so verschwindend gering, dass es der Ort nicht verdient hat, Hessenliga-Fußball anzubieten. Eigentlich ist das nicht mehr als A- oder B-Liga." Noch einmal bemüht der Coach einen bildhaften Vergleich. "Stell dir vor, du bist in einem Autorennen, an dem Porsche teilnehmen. Du hast aber nur das Leistungsvermögen eines Trabants." Doch all das ändert nichts, gegen den Favoriten Gießen zu punkten. (wk) +++