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Literatur im Stadtschloss: Juri Andruchowytsch, Radio Nacht
26.04.23 - Mit der heutigen Lesung begann die 32. Auflage der Reihe ‚Literatur im Stadtschloss‘. Dass dies möglich ist, liegt am Engagement derer, die sie ins Leben gerufen und fortgeführt haben, aber auch an den Sponsoren, die von Anfang an dabei waren. Ihnen dankte Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld in seiner Begrüßung ganz besonders, denn sie ermöglichen es, dass wir in Fulda große Literatur nach wie vor kostenlos genießen können – und hinterher mit einem Gläschen gutem Rheingauer über Bücher, Autoren, Gott und die Welt plauschen können.
Auftakt mit ukrainischem Star-Autor
Die diesjährige Reihe ist mit vier deutschen, zwei österreichischen und einem ukrainischen Autor hochkarätig besetzt. Den Auftakt machte Juri Andruchowytsch, ein in der Ukraine sehr populärer und erfolgreicher Autor, der für seine Romane dort mindestens so sehr geliebt wird wie für seine Musik und seine Gedichte. Damit Sie eine Vergleichszahl haben: Als "Radio Nacht" am 13. Dezember 2020 in der Ukraine vorgestellt wurde, waren 1 Million Zuhörer am Radio dabei. So kann es nicht verwundern, dass Andruchowytschs ukrainische Fans ihm auch im Fürstensaal die Ehre erwiesen.
Seine Heimatstadt Iwano-Frankiwsk stehe, so der Oberbürgermeister, exemplarisch für die europäische Geschichte: Die Stadt war im 17. Jahrhundert zunächst polnisch, gehörte dann zum österreichischen Kaiserreich, wurde im 20. Jahrhundert von den Ungarn, der Sowjetunion und den Nationalsozialisten besetzt. Seit 1991 war die Stadt endlich ukrainisch und unabhängig, und muss sich nun in Putins Angriffskrieg behaupten. Ihr vielleicht bekanntester Bürger stehe exemplarisch für Fragen rund um unser kulturelles, historisches und literarisches Erbe – erst recht aber für Fragen nach unserer Zukunft und unserem Zusammenhalt. Eine Antwort könnte darin liegen, die Perspektive zu wechseln, aufeinander zuzugehen, neue Rollen einzunehmen – so wie es Josip Rotsky, der Held von "Radio Nacht", tut. Oder wie es sein Schöpfer, Juri Andruchowytsch, lebt: Fest verwurzelt in seiner Heimat – er lebt nach wie vor in Iwano-Frankiwsk – und doch in jeder Beziehung Weltbürger.
Ein akustischer Roman
Andruchowytsch schrieb "Radio Nacht" vor Ausbruch der Corona-Pandemie und bevor Russland die Ukraine angriff. Da man aber die Gegenwart nicht ausblenden kann, hat man beim Lesen oft das Gefühl, er beschreibe in seinem Roman hellsichtig die aktuelle Situation der Ukraine. Im Fürstensaal las er drei Passagen, wenn Sie nachschlagen wollen: Die Radio-Moderation der Anfangs-Passage ab S. 9, eine Passage aus Josip Rotskys Gefängnis-Aufenthalt in der schweizerischen Haftanstalt Z. ab S. 64, und die Radio-Moderation, die sich mit der Revolution befasst, in der Josip Rotsky eine fast mythische Rolle gespielt hat und von seinem zum Geheimdienst übergelaufenen Freund verraten wird ab S. 355.
Andruchowytch las mit ruhiger, angenehmer Stimme, im genau richtigen Lese- und Zuhörtempo, so konnten wir uns in seinen Roman und dessen Figuren vertiefen. Und während man das tat, reifte der Gedanke: Eigentlich sollte man diesen Roman besser hören als lesen. Schade, dass es kein Hörbuch gibt! Er habe immer einen klingenden Roman schreiben wollen, hat Andruchowytsch in einem Interview gesagt. Sicher deshalb mag er für "Radio Nacht" die Bezeichnung "akustischer Roman" am liebsten, die von seinem ukrainischen Kollegen Jermolenko stammt. Andere Rezensenten sprachen von einem "raubeinigem Märchen, einer Abenteuer- und Exilerzählung, einer Fluchtgeschichte, einer Liebesgeschichte und noch vieles mehr" (so die NZZ). Genauso gut könnte man auch von einem Schelmenroman, einem politischen Roman, einem Fantasy-Epos oder einer Dystopie sprechen.
Ein Freiheits-Roman mit viel Musik
Musik spielt in Andruchowytschs Leben eine große Rolle, wie Serhij Zhadan ist auch er in der Ukraine ein bekannter Rockstar (man sieht’s am Ohrring). Mit der Gruppe BuBaBu (Burleske-Balagan-Buffonada) füllte er große Hallen, seit über zehn Jahren tritt er mit der polnischen Band Karbido auf. Sie als Leser/innen können am Roman musikalisch teilhaben, ein QR-Code im Buch führt Sie zu Josip Rotskys Playlist – und alle Titel spielen natürlich auch im Buch eine zentrale Rolle.
"Radio ist persönlicher als Fernsehen", davon ist Andruchowytsch überzeugt. Der Roman sei für ihn eine Reise in seine eigene Vergangenheit, in seine Teenager-Jahre: "Das war für mich ein Weg in die Freiheit, Radio war ein unzensiertes Medium – im Vergleich mit dem Fernsehen, wo wir nur zwei offizielle sowjetische Kanäle hatten. Im Radio konnte ich Berlin hören und Warschau, Radio Liberty aus München oder Voice of America – und dazu Musik, die in der Sowjetunion verboten war", so im FAZ-Podcast zu diesem Buch.
Andruchowytsch sieht seinen Roman auch als Bilanz dessen, was 30 Jahre Sowjetunion mit den ehemaligen Teilrepubliken gemacht haben. Tatsächlich sei das Jahr 2022 so etwas wie eine Wasserscheide gewesen – vorher habe es 30 Jahre Sowjetrepublik, und danach 31 Jahre ukrainische Unabhängigkeit gegeben. Es sei mehr als symbolisch, dass die Ukraine gerade in diesem Jahr angegriffen worden sei, denn: Es gehe um die Freiheit.
Für Andruchowytsch ist klar, dass diese 31 Jahre der Unabhängigkeit nicht umsonst waren, sondern die Ukraine den richtigen Weg gefunden hat. Der Krieg habe das Kulturleben in der Ukraine nicht nur nicht zum Stillstand gebracht, sondern es geradezu erblühen lassen: An erster Stelle kämen immer die Musik und die Lieder. Deswegen war es mehr als eine schöne Geste, dass Andruchowytsch den Abend mit einigen Zeilen auf Ukrainisch beendete und dahin zurückkehrte, wo er seine Lesung angefangen hatte (beim Roman-Anfang). Das lesebegeisterte Fuldaer Publikum verabschiedete ihn mit viel Beifall. Ein rundum gelungener Auftakt der Literatur-Reihe!
Links
FAZ-Bücher-Podcast mit Juri Andruchowytsch: https://www.youtube.com/watch?v=i8NU9mgmTzE
Wir haben keine Wahl, außer zu kämpfen und zu gewinnen – Juri Andruchowytsch im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ukrainischer-schriftsteller-jurij-andruchowytsch-100.html
(Jutta Hamberger)+++