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Zeitzeuge Gerhard Wiese berichtet über über den Auschwitz-Prozess
18.05.23 - Die Tiefenwirkung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses war Anfang der 1960er Jahre noch nicht abzuschätzen. Für uns heute ist klar: Dieser Prozess veränderte Deutschland. Endlich war die bleierne Zeit des Schweigens vorüber und es war klar, dass es nach Auschwitz keinen "Schlussstrich" geben konnte. Der Abend im Kanzlerpalais versuchte keine historische oder politische Einordnung des Auschwitz-Prozesses, sondern gehörte ganz dem letzten Zeitzeugen des Prozesses – dem heute 94-jährigen Gerhard Wiese.
Warum Erinnern wichtig ist und bleibt
Kulturamtsleiter Dr. Thomas Heiler wies in seiner Begrüßung daraufhin, dass 456 Aktenbände und 103 Tonbänder zum Prozess online abrufbar seien, die aber nicht die Begegnung mit einem Zeitzeugen ersetzen könnten. Dr. Patrick Liesching, der Leiter der Fuldaer Staatsanwaltschaft, begrüßte hocherfreut den ehemaligen Kollegen – tatsächlich begann Wiese seine juristische Laufbahn 1960 in Fulda! – und zitierte Cicero: "Wer nicht weiß, was vor seiner Geburt geschehen ist, wird auf immer ein Kind bleiben."
Anja Listmann, Beauftragte für Jüdisches Leben in Fulda, hatte mit dem Gast aus Frankfurt und ihrer Auschwitz-Projektgruppe bereits am Nachmittag die Auschwitz-Ausstellung im Stadtschloss besucht (O|N berichtete ). Gerhard Wiese war von den Arbeiten der Schülerinnen sehr beeindruckt. Bis zum 22. Mai haben Sie noch die Chance, sich die Ausstellung anzusehen!
Beweisaufnahme und Ortsbegehung in Auschwitz
In dem Prozess sollten alle Schichten von Auschwitz-Tätern vor Gericht stehen – Ärzte, Wachleute, Häftlings-Kapos etc. Insgesamt wurden 359 Zeugen gehört, von denen zwei Drittel ehemalige Häftlinge waren. Wiese war einer der jungen und unbelasteten Staatsanwälte, die Generalstaatsanwalt Fritz Bauer für den Auschwitz-Prozess einsetzte. Ihm wurden die beiden SS-Männer Wilhelm Boger und Oswald Karduk zugeteilt, für die er die Anklageschriften erstellte. "Das waren SS-Männer der übelsten Sorte, beide waren vielfache Mörder und wir hatten genügend Beweise", so Wiese.
Mit den technischen Möglichkeiten der Zeit war viel Handarbeit nötig, um die Prozessunterlagen zusammenzustellen. "Die 700 Seiten der Anklageschrift wurden auf mechanischen Schreibmaschinen geschrieben und an einem langen Tisch von Hand zusammengesetzt. Dann wurde jede einzelne Seite fotografiert. Die Filme gingen zur Landesbildstelle, die sie entwickelte und die Bilder vervielfältigte – und dann allen zur Verfügung stellte."
Noch bevor der Prozess begann, wurde eine Ortsbegehung in Auschwitz anberaumt. Nicht gerade einfach zu realisieren in Zeiten des Kalten Kriegs, aber man wollte überprüfen, ob die Zeugenaussagen wirklich glaubhaft waren. "Konnte man von hier sehen, was Boger einem Häftling antat? Hörte man tatsächlich in diesem Gebäude die Schreie? Das waren so Fragen, und wir stellten immer wieder fest, ja, so war es, die Zeugen hatten die Wahrheit gesagt. Die Verteidiger haben diese Reise anfangs als eine Art Betriebsausflug gesehen, aber je weiter wir ins Lager hineinkamen und je mehr wir sahen, desto stiller wurden sie", so Wiese.
"Eine Zeugenaussage, die ich nie vergessen habe"
Am 20. Dezember 1963 begann der Prozess. Montags, mittwochs und freitags waren die Verhandlungstage. Zu Beginn vermittelten drei Sachverständige vom Münchner Institut für Zeitgeschichte den historischen Hintergrund. Dann begannen die Zeugenaussagen. "Das war schwierig. Die Zeugen hatten fast 20 Jahre verdrängt, was ihnen widerfahren war. Und jetzt sollten sie es in Deutschland, vor einem deutschen Gericht, wieder aufleben lassen?"
Eine Zeugenaussage ist Gerhard Wiese besonders präsent geblieben, die des Arztes Dr. Mauritius Berner aus Rumänien. Er wurde 1944 mit seiner Familie im Rahmen der von Eichmann durchgeführten Ungarn-Aktion nach Auschwitz deportiert. Auf der Rampe sah er den SS-Mann Victor Capesius, den er noch als Pharmavertreter kannte und der in Auschwitz die Lagerapotheke leitete. Er ging zu ihm und bat ihn um Hilfe. Capesius brachte daraufhin Berners Kinder – Zwillinge – zu Dr. Mengele, der aber abwinkte, denn er arbeitete nur mit eineiigen Zwillingen. Damit war das Todesurteil über Berners Kinder und seine Frau gesprochen. "Nach dieser Aussage war es totenstill im Saal", so Wiese. Wenn Sie Berners Aussage hören wollen: https://www.youtube.com/watch?v=VRe_QVRcMRk
Die Banalität des Bösen
Bis auf zwei Zahnärzte, bei denen der Dienst auf der Rampe nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, wurden alle Angeklagten zu lebenslänglichen oder zeitlichen Haftstrafen verurteilt, keiner wurde vorzeitig entlassen. "Die Haltung war bei allen: Ja, wir waren in Auschwitz, aber wir haben nichts getan. Wir hätten erwartet, dass einer aufsteht und sich schuldig bekennt, aber das geschah nicht", erzählt Gerhard Wiese.
Wie ging es ihm mit der Empathielosigkeit der Täter? "Wenn ich die Angeklagten vor mir auf der Bank sah, dachte ich immer, das ist eine Ansammlung schlichter Bürger. Nichts war zu sehen von dem, was die Zeugen beschrieben hatten." Hier zeigt sich einmal mehr das, was Hannah Ahrendt mit der ‚Banalität des Bösen‘ so treffend beschrieben hatte. Ein Schüler will wissen, ob die Häftlings-Kapos nicht geringere Strafen hätten erhalten müssen als die SS-Leute – Wieses Antwort ist so knapp wie klar: "Nein, die hatten genauso Dreck am Stecken und wurden für ihre Taten verurteilt."
Nahm ihn der Prozess emotional mit? "Wissen Sie, am Anfang war das schon belastend. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, wenn ich nach Hause kam. Aber es ist auch so, dass man, wenn man dauernd mit Mord und Totschlag zu tun hat, einen Schutzschild dagegen entwickelt", beantwortet Wiese die Frage eines Schülers. Es ist die sachliche Haltung und Sicht eines Juristen, der sich Emotionen vielleicht auch bewusst verbietet und streng bei den Fakten bleibt. Deswegen zum Abschluss ein Zitat von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der das Ziel des Auschwitz-Prozesses vorgegeben hatte: "Die gewiss aufwühlende, aber entscheidende Lehre unserer Prozesse gebietet aber die Bereitschaft zum eindeutigen Nein gegenüber staatlichem Unrecht. Die Prozesse verlangen, dass die Menschen auf private und familiäre Vorteile verzichten und auch zu persönlichen Opfern bereit sind, wenn von ihnen gefordert wird, Böses zu tun oder zu tolerieren, mag auch der Staat es sein, der sich zum Anwalt des Bösen macht." Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. (Jutta Hamberger)+++