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Silke Stamm erhält für "Hohe Berge" den Fuldaer Literaturpreis
15.06.23 - Die diesjährige Preisträgerin des Fuldaer Literaturpreises überrascht auf ganzer Linie. "Hohe Berge" ist ein ungewöhnliches Buch – ungewöhnlich intensiv und sprachlich ungewöhnlich. Seiner Sogwirkung kann man sich nur schwer entziehen.
Kein Festakt ohne Musik, die machten an diesem Abend die Percussion Kids Konrad Kaffanke, Lisanna Tomazic, Hagen Pfaff, Lars Neuhaus und Jonas Wagner unter Leitung von Klaus Schenk. Mit den Stücken Paradise, Desert Sunrise und dem schmissigen Short Fuse sorgten sie mit ihrer sehr gelungenen Performance für gute Vibes und gute Laune.
In seiner Begrüßung bedankte sich Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld bei Verleger Dr. Thomas Schmitt und seiner Frau Gerda von Parzeller sowie Sparkassenvorstand Uwe Marohn, die als Sponsoren seit 30 Jahren hochkarätigen Literaturgenuss kostenlos ermöglichen. Er dankte der Jury – Christoph Peters, Christoph Schröder und Zsusa Bánk waren anwesend – und natürlich dem Publikum von "Literatur im Stadtschloss", darunter vielen, die zu jeder Lesung kommen.
Der Fuldaer Literaturpreis sei eine Ermutigung, denn zum Schreiben müsse man viel Kraft, Energie und Durchhaltevermögen aufbringen, so der OB. Heute würde der Preis zum 5. Mal verliehen und sei damit schon eine kleine Tradition geworden. Ja, es ist gut, dass es diesen Preis gibt. In meine Freude mischt sich allerdings auch Wehmut, denn bis jetzt hat er nur wenig Wirkung erzielt – weder bei den Leserinnen und Lesern, in der Branche oder den Medien. Hier anzusetzen wäre eine wichtige Aufgabe für Stadt und Juroren.
Ein Buch wie eine Abfahrt
In seiner Laudatio gestand Christoph Peters, er habe bei den ersten Sätzen gedacht: Oh, ein sehr entschiedener Einstieg. Dann mit leichter Verwunderung: Was macht sie da eigentlich? Und: Das kann sie doch unmöglich durchhalten! Aber nach wenigen Seiten sei er eingesogen gewesen in diesen Roman und habe sich gefragt, ob es so was schon einmal gegeben habe. Ihm sei nichts auch nur annähernd Vergleichbares untergekommen.Ob "Hohe Berge" tatsächlich ein Debüt ist, darüber ließe sich streiten. Bereits 2013 erhielt die Autorin den literarischen Förderpreis der Stadt Hamburg, 2019 erschien ihre Erzählung "Besser wird es nicht" (die formal Ähnlichkeiten mit "Hohe Berge aufweist), und 2020 wurde sie für einen Auszug aus "Hohe Berge" mit dem Hamburger Literaturpreis in der Sparte Lyrik/Drama/Experimentelles ausgezeichnet. Bei der damaligen Preisverleihung sagte Laudator Thomas Bleitner, der Text sei "… mutig, er besteht gänzlich aus Infinitivsätzen. Das Tempo, das er dadurch entfaltet, ist enorm und seine Verdichtung brillant. Stilsicher wird das an sich schon beklemmende Szenario durch die kategorische Satzstruktur noch gesteigert. Wir Leser/innen fühlen uns wie auf einer alpinen Abfahrt, die die Autorin uns hinunterschickt."
Debüt oder nicht, "Hohe Berge" entfaltet eine ungeheure Wucht. Das Setting ist bekannt – man bringe die Protagonisten in eine "closed room"-Situation, in der sie sich nicht voneinander lösen können, und beobachte, was geschieht. In "Hohe Berge" sind fünf Männer und eine Frau acht Tage lang auf einer Bergtour unterwegs. Sie kannten sich vorher nicht, ihre Bergfähigkeiten sind unterschiedlich. Sie haben nicht nur ihren Wander-Rucksack dabei, sondern auch den ihres Lebens. Der ist, wie könnte es anders sein, prall gefüllt mit Schicksalen.
Kein Erzähler-Ich, dafür aber viele Semikolons
Eigentlich ist der erste Satz eine Zumutung. Er ist 188 Worte lang – und setzt die Pace für den Rest des Buchs und viele weitere, sehr lange Sätze. Das gelingt, weil Silke Stamm ein fast ausgestorbenes Satzzeichen wiederbelebt, das Semikolon. Der wunderbare Wolf Schneider hat einmal über das Semikolon sinniert, es sage (…) "dem Leser zweierlei: Hier findet eine größere Zäsur als beim Komma statt; und der Hauptsatz, der nun folgt, enthält erst jene Fortsetzung meines Gedankens, ohne die der erste Hauptsatz unvollständig wäre." (NZZ, 01.05.1992) In diesem Buch bringt das Semikolon den Text quasi zum Schweben. Es ist, als sei dieser Roman von der ersten bis zur letzten Seite ein einziger, großer, sich immer weiter entwickelnder Gedanke.
Christoph Peters ging in seiner Laudatio auf den zweiten Kunstgriff der Autorin ein – die Absenz des erzählenden Ichs. "Es gibt kein Ich, es gibt kein sie", Stamm dekonstruiere die Grammatik. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meine Welt, hat Wittgenstein gesagt. Wenn das so ist, dann hat Silke Stamm sie sehr weit verschoben."
Die Sätze sind kantig, sie gleichen den Schweizer Bergmassiven, durch die die Gruppe wandert. Auf dem Cover des Buchs ist das Matterhorn abgebildet – aber nicht in der vertrauten Toblerone-Optik, man erkennt es erst, wenn man das Buch dreht. Man kann das auch als Metapher für den Roman verstehen.
Genauer Blick statt Pathos und Bergromantik
Frieren, hungrig und durstig sein, eintönig essen, erschöpft sein, Schmerzen haben, unter den Unzulänglichkeiten der Berghütten leiden, Hygiene auf das absolute Minimum beschränken, unter den eigenen und fremden Körperausdünstungen leiden und keine Privatsphäre haben – warum tut man sich das freiwillig an? Weil im Zurückgeworfensein auf sich selbst Faszination liegt. Weil die körperliche Anstrengung für intensivere Gedanken und Empfindungen und für ein genaueres Beobachten sorgt. In diesem Roman gibt es weder Bergromantik noch majestätische Gipfel. Es gibt kein Pathos und keine Über-Berge. Nichts ist spektakulär oder Insta-tauglich. Mit akribischer Genauigkeit widmet die Autorin sich den kleinen Dingen und Details – von der verschmierten Zahnpasta-Spucke bis zum angebissenen Käsebrot und dem Plumpsklo, auf dem der Hintern wegen der Kälte fast festfriert.
Silke Stamm bedankte sich bei ihrem Mann und Sohn, die sie nach Fulda begleitet hatten, bei Stadt, Jury und Laudator, bei ihrer Agentin Céline Meiner und ihrem Lektor Andreas Paschedag. "Solche Preise sind wichtig, nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Anerkennung. Das ist für uns ein rares Gut, denn Schreiben ist ein einsames Geschäft, der Antrieb muss aus einem selbst kommen." Ihr Roman sei ein Sehnsuchtsbuch, "wer weiß, ob ich es geschrieben hätte, wenn ich im Süden Deutschlands geblieben wäre." Dann las sie das zweite Kapitel über den zweiten Tag der Skitour, "denn ich will, dass Sie gleich auf dem Berg sind".
Gemeinsam mit Stadtverordnetenvorsteherin Margarete Hartmann und Laudator Christoph Peters verlieh Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld Silke Stamm den Fuldaer Literaturpreis, dessen Urkunde auch in diesem Jahr wieder Karlos Aha gestaltet hatte. Mit viel Beifall bedankte sich das Publikum für einen eindrucksvollen Abend und ein ganz besonderes Buch. (Jutta Hamberger) +++
Dr. Albert Post und die beiden Alt-OB Dr. Alois Rhiel mit Gattin Christiane sowie Gerhard Möller ...
In der ersten Reihe neben OB Wingenfeld Silke Stamm, ihr Mann Thomas und ihr Sohn Paul, Laudator ...