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Vor 35. Jahren, am 16. August 1988, begann in Gladbeck der Überfall auf eine Sparkassen-Filiale, die Täter flohen mit Geiseln tagelang durch Deutschland. - Foto: picture alliance / SvenSimon | Sven Simon

KOMMENTAR Vor genau 35 Jahren

Das Geiseldrama von Gladbeck - eine Betrachtung

17.08.23 - Drei Tage im August des Jahres 1988 wirken bis heute auf die Arbeit von Polizei und Presse nach. Ob sie auch das Bewusstsein der Bevölkerung dahingehend verändert haben, wie mit Sensationsgier umzugehen ist? Wohl kaum. Vor genau 35 Jahren, und damit im Vor-Internet-Zeitalter, spielte sich vom 16. bis 18. August unter den Augen der Öffentlichkeit live ein Geschehen ab, das als "Geiseldrama von Gladbeck" unrühmlich-traurige Geschichte geschrieben hat.

Was als amateurhaft ausgeführter Banküberfall der beiden Kleinkriminellen Dieter Degowski und Jürgen Rösner begann, endete drei Tage später mit einer blutigen Schießerei auf der Autobahn. Dazwischen lagen furchtbare und zugleich ernüchternde Stunden – für die Geiseln, die Polizei und für die Journalisten. Denn das Verbrechen, das kein Ende zu nehmen schien, wurde quasi rund um die Uhr live in die deutschen Wohnzimmer übertragen.

Reporter wichen den Gangstern nicht von der Seite, reichten ihnen Kaffee und Mikros, begleiteten sie in eine Apotheke, filmten jeden ihrer Schritte und trugen hämische Rechtfertigungsversuche und Kommentare in die Republik hinaus.  Und hielten die Verzweiflung der Geiseln, ihre Todesangst und Hilflosigkeit in allen Schattierungen fest. 

Die Bürger wiederum verfolgten das widerliche Schauspiel mit einer Mischung aus Abscheu, Ekel und Faszination.

Manche hielten das Drama, das letztlich zwei Geiseln und einem Polizisten das Leben kostete, zumindest anfangs vielleicht für eine Art von "Das Millionenspiel". Dieser Fernsehfilm aus dem Jahr 1970 hatte einst die voyeuristischen Auswüchse des Privatfernsehens und der Boulevardmedien sehr realistisch vorweggenommen beziehungsweise die gesellschaftlichen Abgründe hellsichtig zu deuten gewusst. 

Das Drama von Gladbeck fesselte eine Nation zu Hause in ihren Sesseln oder den Bürostühlen am Arbeitsplatz. Was 1988 ablief, würde man heute einen Liveticker nennen. Die sogenannten "Sozialen Medien" wären binnen von Minuten voll mit Sequenzen des Geschehens und mit Likes – nach oben oder unten. Beifall heischende Kommentare gäbe es wahrscheinlich für den Journalisten, der sich als Vermittler anbot oder für den Presse-"Kollegen", der sich unter den Augen der Polizei dazu herabließ, das Fluchtauto samt Gangstern und Geiseln aus der Stadt zu steuern. Welch ein erbärmliches Gehabe, der Einschaltquoten und der Auflage wegen. Von Ethik oder gar Gewissen keine Spur.

Natürlich muss man sich als Journalist fragen: Wie hättest Du gehandelt?

Wie würdest Du handeln, würdest Du in solch eine Situation geraten? Ganz ehrlich: Ich bezweifle, dass das Drama von Gladbeck sehr viel hat bewegen können. In den ersten Wochen vielleicht, ja. Aber heute? Im Zeitalter des Internets, wo jeder sich berufen fühlt, irgendetwas zu posten, geht es noch mehr um Schnelligkeit und um ein Live-Erlebnis als 1988. Moralische Hürden sind größtenteils dazu da, ignoriert zu werden. Wahrscheinlich wären Geiseln, Gangster und Polizeibeamte in diesen Tagen umringt von einer Menschenmenge, von denen jeder mit einem Smartphone filmen würde. Es gäbe ein Gerangel um die besten Plätze und darum, wer am schnellsten etwas ins Netz gestellt hätte. Willkommen in der Realität des Jahres 2023!

Eine kleine Errungenschaft immerhin gab es: Unter Federführung des Presserates formulierte die Innenministerkonferenz der Länder Regeln für Polizei und Medien, die bis heute verbindlich sind. Danach dürfen Journalisten frei und unabhängig berichten, aber nicht eigenmächtig in das Geschehen eingreifen oder gar polizeiliches Handeln behindern. (Bertram Lenz) +++


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