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REGION "Ich weiß, was den Leuten am Herzen liegt!"

Wird Tarek Al-Wazir erster Ministerpräsident in grünen Turnschuhen?

04.09.23 - Tarek Al-Wazir ist seit 2014 hessischer Wirtschafts- und Verkehrsminister und Vize-Ministerpräsident. Der 52-jährige gebürtige Offenbacher, Urgestein der hessischen Grünen, war zum Redaktionsgespräch bei OSTHESSEN|NEWS und hatte genügend Zeit mitgebracht, unsere Fragen ausführlich zu beantworten. Die Wichtigste: Warum will er nach so vielen Jahren reibungsloser Zusammenarbeit mit der Union in Hessen jetzt selbst Ministerpräsident werden? Ist das angesichts zunehmender Politikverdrossenheit und den Umfragehöhenflügen der AfD eine realistische Option?

Tarek Al-Wazir will auf jeden Fall in Hessen bleiben, am liebsten als Ministerpräsident ...Fotos: Martin Engel

Redaktionsbesuch in Neuenberg

Der Frust über den offen ausgetragenen Dauerstreit der Ampelregierung in Berlin ist unübersehbar; wo man hinhört, überwiegen derzeit die Klagen über gegenseitige Blockaden und Gesetzespfusch. Besonders die Grünen werden als abgehobene Treiber maximaler Veränderungsprozesse empfunden, die den Wählern trotz Inflation und schwächelnder Konjunktur hohe Kosten aufbürden wollen. "Die da oben haben doch keine Ahnung, was uns Normalsterblichen Sorgen macht und uns schlaflose Nächte bereitet", lautet der Tenor.

"Ich bin nicht abgehoben - ich weiß, wo die Leute der Schuh drückt!"

O|N-Chefredakteur Christian P. Stadtfeld

O|N-Geschäftsführer Hendrik Urbin

Tarek Al-Wazir wendet sich dezidiert gegen das Klischee des abgehobenen Politikers, der keine Ahnung habe, was die Leute wirklich bewegt. Gerade weil er tagtäglich mit Menschen rede, wisse er, welch Riesenproblem viele Eltern zum Beispiel mit der Kinderbetreuung hätten und deshalb nicht so arbeiten könnten, wie sie gerne würden. "Deshalb ist es mir ja auch eine Herzensangelegenheit, mindestens 20.000 neue Kitaplätze zu schaffen und gemeinsam mit den Kommunen auch gegen den Fachkräftemangel in diesem Bereich anzugehen. Die meisten Leute sind total erstaunt, wenn ich ihnen sage, dass Erzieherinnen und Erzieher bislang in der Regel in der Ausbildung kein Geld bekommen". Für mehr Attraktivität des Erzieherberufs müsse sich das grundlegend ändern. Kein Kfz-Mechatroniker würde ohne Vergütung seine Ausbildung anfangen. 

Trotz Krisenmüdigkeit Transformationsprozesse gezielt angehen

Beim Schnitt im Studio Laura Struppe und Sabrina Teufel-Hesse.

Inzwischen müsse es doch jeder begriffen haben: "Wir sehen, dass die Klimakrise real ist, die Extremwettereignisse häufen sich global, wir hatten im Juli gerade den heißesten jemals gemessenen Monat und die wärmste Ozeantemperatur überhaupt. Also kommen wir nicht drumherum, wir müssen etwas ändern." Gleichzeitig seien die Leute krisenmüde und Veränderungen leid. Deshalb müsse man die Menschen mitnehmen und die unterstützen, die das benötigten. Dafür soll ein Klima- und Transformationsfonds für fünf Jahre mit sechs Milliarden Euro geschaffen werden, um alle Ausgaben zu bündeln. Aber es führe kein Weg daran vorbei, dass wir nicht die nächsten hundert Jahre Gas und Öl verbrennen könnten. 

"Bei der Energiewende waren wir mal ganz vorne, aber inzwischen haben uns andere überholt, auch das viel gescholtene China. Dabei ist die Energiewende eine große ökonomische Chance für unser Land, wenn wir sie richtig machen", ist Al-Wazir überzeugt.

Grasgrüne Turnschuhe zur Nominierung

Redakteurin Carla Ihle-Becker

Zu seiner Nominierung im Februar hatte Al-Wazir in Wetzlar ein Paar grasgrüne Turnschuhe mit der Aufschrift "Mit beiden Füßen in Hessen" bekommen. Nancy Faeser muss es in den Ohren geklingelt haben. Die Sneaker erinnerten an die Vereidigung von Joschka Fischer 1985 im Hessischen Landtag. "Joschka war der erste grüne Minister in Hessen und Deutschland. Und er war der erste Minister, der in Turnschuhen vereidigt wurde. Wenn es klappt, bin ich der erste Ministerpräsident in Deutschland, der sich in Turnschuhen vereidigen lässt", versprach er den Grünen Mitgliedern auf dem Parteitag. Schaun wir mal, wie die Hessen am 8. Oktober entscheiden.

Verständnis für den Frust der Wähler

"Die Enttäuschung mancher Wähler über die Bundespolitik kann ich durchaus nachvollziehen", gibt Al-Wazir unumwunden zu. Viele Menschen seien überfordert und schlicht gebeutelt durch die Masse an Krisen: zuerst habe die Pandemie Auswirkungen auf unser aller Alltag gehabt, die keiner von uns jemals zuvor erlebt habe. Direkt im Anschluss ängstigte uns die Energiekrise. "Die Gas- und Ölpreise sind zwischenzeitlich durch die Decke gegangen. Und dann gab es so ein weit verbreitetes Grundgefühl: Irgendwer muss ja schuld sein, und im Zweifel sind das dann immer die, die regieren", konstatiert der Minister. "Dabei war natürlich nicht die Bundesregierung für die steigenden Energiepreise verantwortlich, sondern es ist Putins Angriffskrieg auf die Ukraine."

"Die Bundesregierung und allen voran Robert Habeck haben es geschafft, uns gut durch diesen Winter zu bringen. Niemand hat im Dunklen frieren müssen, auch wenn einige das prophezeit hatten, nachdem Putin uns den Gashahn von heute auf morgen zugedreht hatte." In keinem Land der Welt habe es zudem so viele staatliche Hilfen wie etwa Pauschalzahlungen oder die Gas- und Strompreisbremsen gegeben. Aber alle diese Erfolge würden vom Dauerstreit in der Regierung völlig überdeckt und überlagert. "Dabei sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Trotz Coronapandemie, Energiekrise und einem Krieg mitten in Europa haben wir heute mehr Arbeitsplätze als jemals zuvor - und zwar durch gute Wirtschaftspolitik."

"Wenn bei den Wählerinnen und Wählern der Eindruck entsteht, dass sich die Regierung nicht mit den drängenden Problemen, sondern nur mit sich selbst beschäftigt, entsteht Enttäuschung. Und genau aus diesem Grund haben wir das in der hessischen Landesregierung in den letzten zehn Jahren anders gehalten, wenn wir unterschiedlicher Meinung waren: Wir haben das nicht auf offener Bühne ausgetragen, sondern hinter verschlossenen Türen um die beste Lösung gerungen. Und vor allem haben wir dann auch gemeinsam dazu gestanden." Das sei guter Regierungsstil und das sei auch sein Anspruch für die nächsten fünf Jahre, bekräftigt Al-Wazir. Quasi als Belohnung für diese geräuschlose Fairness in Wiesbaden liegen die Umfragewerte der hessischen Grünen höher als die im Bundesdurchschnitt. 

Noch sei der Wahlkampf gar nicht richtig gestartet, je näher der Wahltermin komme, umso mehr Menschen beschäftigten sich dann auch intensiver mit der Landespolitik und differenzierten. Offensichtlich ist der 52-Jährige zuversichtlich, wenn es um das Wahlergebnis am 8. Oktober geht. "Mal sehen, wem die Leute am Ende die Führung des Landes zutrauen."

Dringende Warnung vor AfD

Unvermeidlich kommt das Gespräch auch auf die AfD. "Ich habe ja ein gewisses Verständnis dafür, dass Leute vom Regierungsstil auf Bundesebene abgeschreckt sind, man kann sich über ein Heizungsgesetz ärgern, aber das ist noch lange kein Grund, Rechtsradikale zu wählen", sagt der Minister. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wes Geistes Kind die AfD sei, habe man das ja spätestens auf deren Bundespartei in Magdeburg gesehen: offen propagiere die AfD den Austritt aus der EU, will einen D-Exit.

"Jeder, der das will, sollte sich mal das Chaos in Großbritannien seit dem Brexit anschauen, wie viel schlechter es den Briten seither ergeht. Für Deutschland als Exportland wäre das noch signifikant dramatischer, wir sind auf offene Grenzen und auf den Binnenmarkt angewiesen, das wäre ökonomisch eine Katastrophe." Den Ton in der AfD gebe mit Björn Höcke ein ausgewiesener Rechtsextremist an, der ja explizit äußere, was er für Deutschland will: zum Beispiel das Thema Inklusion in Schulen beenden. Anfang August hatte sich Höcke sich in einem Gespräch gegen die Regelbeschulung von Kindern mit Behinderung geäußert, mit der Begründung, dass es sich dabei um einen "Belastungsfaktor" im Schulsystem handle. "Fragen Sie mal bei Antonius hier in Fulda nach, wie die das finden! Was sagt der Höcke da? Das sind nicht mehr viele Schritte hin zu dem, was wir schon mal hatten", entsetzt sich Al-Wazir.

Und appelliert an die politische Verantwortung jedes Einzelnen, sich klar gegen solche Dammbrüche zu positionieren. Auch die Verehrung der AfD für Wladimir Putin müsse doch jedem Demokraten zu denken geben: "Wenn deutsche Rechtsradikale vor dem Reichstag in Berlin die russische Fahne schwenken, sieht man den Grad von deren Verwirrung." (Carla Ihle-Becker)+++


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