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Auf dem Grenzstreifen an Point Alpha. Im Hintergrund der US-Wachturm. - Fotos: Jutta Hamberger

FULDA Jüdische Geschichte

Tagebuch einer besonderen Woche: Sei das Licht (3)

08.09.23 - Viele Termine und Exkursionen hält diese Woche für alle bereit. Manches vorgeplant und organisiert, anderes spontan und weil es auf einmal möglich ist. Die Tage sind prall gefüllt und eigentlich immer zu kurz für alles, was man tun möchte.

Aber das, was besonders wichtig ist, kristallisiert sich allmählich doch heraus. Auf Einladung der Stadt treffen sich hier Menschen, die sich sonst nie begegnet werden. Auf ganz wunderbare Weise tun sich immer wieder Verbindungen zwischen diesen Menschen auf. Und man müsste viel mehr Zeit haben, um miteinander zu sprechen. Das Bedürfnis nach Verbindung ist groß, in die Vergangenheit genauso wie in die Zukunft.

Am runden Tisch auf der Esplanade

Von links: Gerhild Elisabeth Birmann-Dähne, Roman Melamed, Bella Gusman und Ingeborg ...

Von links: Marielise Heiligenthal, Wolfgang Hengstler, Jana Tegel, Gerhild Elisabeth ...

Die Nachfahren der Familie Lump – die Autorin zwischen Regina und Jordana Carmel. ...

Das Abendessen findet auf der Plaza im Hotel Esperanto statt, jeder sitzt da, wo er und sie es mag. Prinzip Zufall schickt mich zu dem Tisch, an dem sich Mitglieder der hiesigen Jüdischen Gemeinde mit Menschen zusammengefunden, die sich in und um Fulda herum intensiv mit der jüdischen Geschichte befassen. Gerhild Elisabeth Birmann-Dähne kennt man als Autorin eines Buchs über die Jüdischen Friedhöfe in der Rhön. Inge Hohmann kennt die jüdische Geschichte von Tann und Weyhers gut und hat in diesen Tagen dort schon eine Gruppe geführt.

Am Tisch des Oberbürgermeisters die beiden Damen Carmel und auch Ethan Bensinger, ...

Michael Braunold – auch er ein häufiger Gast in Fulda – mit seinem Sohn Joshua, ...

Gefunden! Ingeborg Kropp-Arend mit den Nachfahren der Rabbiner-Familie Cahn, Achsa ...

Die Unternehmerin Ingeborg Kropp-Arend, die in Kooperation mit der Stadt die Reihe "Unbekannte Nachbarn – Vorträge zum Jüdischen Fulda" organisiert. Der Veranstaltungsort ist geschichtsträchtig, die ehemalige Villa des Provinzial-Rabbiners in der von-Schildeck-Straße. Ich erzähle ihr, dass ich schon einige Vorträge digital miterlebt habe. Sie sucht die Nachfahren der Familie Cahn, ich mache sie mit Rinat und Achsa Weinberg bekannt. Und wieder entsteht etwas Besonderes aus diesem kleinen Gespräch – spontan bietet Frau Kropp-Arend den beiden eine Führung durch die Rabbiner-Villa an.

Ein Moment der Nachdenklichkeit – Joshua und Michael Braunold

Ein sehr stolzer Papa – David Goldmeier zeigt mir das Buch, das sein Sohn verfasst ...

Ebenfalls am Tisch Wolfgang Hengstler, der Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Ein Marathon-Fan, wie ich an diesem Abend erfahre! Natürlich sind Bella Gusman und Roman Melamed vom Vorstand der hiesigen jüdischen Gemeinde da, außerdem Marielise Heiligenthal (ist das nicht ein wunderwunderschöner Name?) und Jana Tegel (eine tolle Sängerin). Es ist ein Wohlfühltisch.

Kaddish für die Großmutter

"Wenn Du Lump heißt, kann Dein Leben nur eine Richtung einschlagen", sagt mir irgendwann an diesem Abend Regina Carmel. Wir lachen gemeinsam und auch ich finde, dieser Name verpflichtet. Regina und Jordana haben eine ganz besondere Aufgabe am nächsten Tag. Sie wollen einen neuen Grabstein für ihre Groß- bzw. Urgroßmutter aufstellen. Das ist eine zutiefst intime Zeremonie, an der außer der Familie und Roman Melamed niemand sonst teilnehmen wird. Nicht nur intim, sondern gewiss auch erschütternd und aufwühlend. Ich frage mich: Was geschah mit dem alten Stein? Wurde er zerstört, kam er weg? Ja – auch

letzteres ist immer eine Möglichkeit, Frau Hohmann hatte am Abend berichtet, dass der älteste Grabstein am Weyherser Friedhof verschwunden sei. Wer tut so etwas? Und was bitte macht man mit einem Grabstein?

Von einem echten Data-Head

Kein Picknick im Grünen, sondern Warten auf die Tourguides im Schatten vor dem Haus ...

Frieden, Peace, Mir – das Wahrzeichen am blauen Haus auf der Grenze

Fast ungläubig verfolgen unsere Gäste die Ausführungen von Tourguide Arthur zu ...

Am nächsten Morgen breche ich mit einer Gruppe nach Point Alpha auf. Wieder begegne ich David Goldmeier, der mir seinen Sohn Jordan vorstellt und stolz dessen 2022 ins Deutsche übersetzte Buch "Werde ein Data Head" zeigt. Ich bin sehr beeindruckt und verstehe Papas Stolz sehr gut. Beim Nachrecherchieren finde ich heraus, dass Jordan Goldmeier als Analytik- und Datenvisualisierungs-Experte eine internationale Größe ist, zu dessen Schülern Mitglieder der Fortune 500 Unternehmen genauso gehören wie vom Pentagon. Wow. Daten sind wichtig und werden immer wichtiger – ich gewinne den Eindruck, dass man mit diesem Buch auf die Flughöhe kommt, die man heute haben muss. Müsste.

Auf nach Point Alpha

Vom Team Winfriedschule sind heute Laura und Johannes dabei, die ich bei früheren Veranstaltungen bereits getroffen habe. Für die beiden gilt wie für die ganze Gruppe, die während dieser Woche unterstützt und begleitet: Supernett, superhilfreich, superkommunikativ. Es ist eine Freude, die beiden an Bord zu haben.

"Expect the unexpected" – Daniel Neumanns Ausspruch von Montag passt auf vieles auch auf diese Tour. Wir sollen zum Haus auf der Grenze fahren, ich bin verwundert, denn eigentlich beginnt die Tour immer im US-Camp. Angekommen, stellen wir fest, dass wir tatsächlich zum Camp gesollt hätten. Der Aufforderung, hinüberzulaufen, widersetze ich mich mit Hinweis darauf, dass wir ein enges Zeitfenster haben, es knallheiß ist und nicht alle in der Gruppe so gut zu Fuß sind. Also sammeln uns die Tourguides im blauen Haus ein und wir starten hier. Geht doch! Unser Tourguide Arthur beginnt beim Wahrzeichen des Blauen Hauses – Mir – Peace – Frieden. "Das sollte man täglich den Russen zeigen", lässt sich einer aus der Gruppe vernehmen. Es ist nicht das erste Mal, dass heute und hier oben Vergleiche mit Putins Russland gezogen werden oder andere Grenzen (Irland/Nordirland, Korea, Westjordanland) zum Vergleich herangezogen werden.

Die tödlichste aller Grenzen

Im US-Camp, im Hintergrund der Watchtower, auf den einige nachher noch steigen, denn ...

en meisten in der Gruppe war nicht bewusst, dass es sich bei "der Mauer" nicht einfach um einen Zaun oder eine Mauer gehandelt hat, sondern um ein massiv befestigtes, fünf Kilometer breites Sperrgebiet. Die Befestigungen bestanden aus elektrifiziertem Stacheldrahtzaun, Selbstschussanlagen, Minenfeldern und extra scharf gemachten Trassenhunden. Dazu kamen die Wachtürme, die mit 3 bis 5 Soldaten besetzt waren. Die gesamte Zone wurde von Westdeutschen meist "Niemandsland" genannt und von Flüchtlingen oft fälschlich schon für Westdeutschland gehalten, war aber komplett auf dem Gebiet der DDR. Und deshalb tödlich.

Am Modell im blauen Haus erklärt Arthur diese tödlichste aller Grenzen, die kaum zu überwinden war. "Wenn Sie in Filmen sehen, dass es jemand geschafft hat, machen Sie sich bitte klar, dass es sich dabei immer um Ausnahmen handelt", schärft er uns ein. Ich sehe das ungläubige Staunen in den Gesichtern – so hat man sich das hier nicht vorgestellt.

Vorstoß durch das Fulda Gap

Wer in Fulda aufgewachsen ist, ist mit diesem Begriff vertraut. So bezeichneten die US-Streitkräfte das Gebiet bei Fulda und an der innerdeutschen Grenze – sie gingen davon aus, dass hier das Einfalltor bei einem russischen Angriff sein würde. Die Armeen des Warschauer Pakts hätten bei Fulda durchbrechen und dann innerhalb weniger Tage bis ins Rhein-Main-Gebiet vorstoßen können. Im Bus hatte ich erklärt, Point Alpha sei weniger für das bemerkenswert, was hier stattgefunden hätte als für das, was hier verhindert wurde. Die Vorstellung, hier hätten Panzerschlachten stattgefunden und das Schicksal der Nation hätte von deren Ausgang abgehangen, ist noch heute gespenstisch. "Wie in der Ukraine", höre ich jemand leise sagen. Ja, genauso. Die russische Verteidigungsdoktrin damals wie heute heißt Krieg. Das US-Camp, in dem normalerweise 40 Soldaten stationiert waren, beeindruckt sichtlich. Unter den Gästen sind einige, die militärische Erfahrungen haben – da werden Fahrzeuge wiedererkannt, Katriel Fachler erklärt mir, "in so einem war ich auch unterwegs, ich mag die Dinger nicht!"

Point Alphas zwei Gesichter werden deutlich an diesem sonnigen Spätsommertag: hier die Verteidiger von Demokratie, Frieden und Freiheit, dort ein unmenschliches System, in dem keiner etwas galt und jeder Widerspruch sofort bestraft wurde. Wir können glücklich sein, dass Point Alpha heute eine Gedenkstätte und kein Observation Point mehr ist. (Jutta Hamberger) +++


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