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Der Bundestagsabgeordnete Michael Roth (SPD) hatte den Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck zum "Kaffeeklatsch" eingeladen - diesmal in die Bad Hersfelder Stadtkirche. - Fotos: Christopher Göbel

BAD HERSFELD "Roths Kaffeeklatsch"

Aktuelle Politik im Fokus beim Polit-Talk mit Alt-Bundespräsident Joachim Gauck

10.09.23 - "Ich bin politischer Wechselwähler und habe mit dem hessischen Wahlkampf nichts zu tun", sagte Alt-Bundespräsident Joachim Gauck am Samstagnachmittag in der Bad Hersfelder Stadtkirche. Dorthin hatte der heimische Bundestagsabgeordnete Michael Roth (SPD) den 83-Jährigen zu "Roths Kaffeeklatsch" eingeladen. Und natürlich waren auch die beiden Landtagsabgeordneten Tanja Hartdegen und Karina Fissmann (beide SPD) vor Ort. Schon vor dem offiziellen Beginn gab es Kaffee und Kuchen vor der Kirche und Orgelklänge von Udo Diegel im Kirchenraum.

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck im Talk-Sessel.

Mehr als 500 Menschen waren gekommen, um die Plauderei zwischen Roth und Gauck zu hören. Dass diese politische Veranstaltung in der Kirche und nicht im nahegelegenen Martin-Luther-Haus stattfand, war laut Roth dem zu erwartenden Andrang geschuldet. Und da Joachim Gauck einst evangelischer Pfarrer war, dürfte ein sakraler Raum durchaus gerechtfertigt sein. "Wir freuen uns, dass unser Kirchenraum Möglichkeiten bietet, verschiedene Sichtweisen auszutauschen", sagte Stadtkirchenpfarrerin Silke Kohlwes, die ihre Gäste gemeinsam mit Pfarrer Frank-Nico Jaeger, Pfarrerin Ann-Cathrin Fiß und der Kirchenvorstands-Vorsitzenden Caro Friebe begrüßte. Auch Gaucks Lebensgefährtin Daniela Schadt war mitgekommen.

"Meer statt Berge"

Nach einer kurzen Fragerunde im Roth'schen Kaffeeklatsch-Stil, bei der Gauck beispielsweise sagte, dass er das Meer den Bergen, das Theater dem Kino und die "Ahle Wurscht" einem Kuchen bevorzugen würde, ging er auf Roths Anregung darauf ein, was seine Arbeit als Bundespräsident betraf. "Mich hat in diesem Amt am meisten erschreckt, dass man sehr vorsichtig sein muss, damit nicht der Verdacht entsteht, man würde sich in die Politik einmischen", so Gauck. Er habe die Treffen mit Staatsoberhäuptern sehr genossen. "Ich hatte sehr eindrucksvolle Begegnungen mit Menschen."

Die Pfarrer Frank-Nico Jaeger, Dr. Ann-Cathrin Fiß, Silke Kohlwes und Kirchenvorstands-Vorsitzende ...

Gaucks Lebensgefährtin Daniela Schadt war auch mit dabei.

Er freue sich über ein 'sehr großes ehrenamtliches Engagement in Deutschland' und es bewege ihn sehr, heute in Friedenszeiten in seiner Heimat an der Ostsee am Meer zu stehen, und an die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu denken, die er ebenfalls dort erlebt hat. "Was möchten Sie unbedingt noch lernen?", fragte Roth. Und die kurze Antwort: "Intensiver zuhören." 

Aktuelle Politik

Danach ging es um die aktuelle Politik in Deutschland. "Hass und Hetze verbreiten sich heute - unter anderem durch das Internet - viel schneller", so Gauck. "Menschen, die eine solche Wut haben, sind unzufrieden mit sich selbst und lenken diese Unzufriedenheit auf 'die da oben' um", sagte Gauck. "Es ist ein zielloses Aufbegehren eines Teils der Bevölkerung, weil sie sich selbst nicht einbringen und selbst nichts hinbekommen." Zum Thema Protestwähler sagte der Alt-Bundespräsident, dass man durchaus einen Unterschied zwischen Wählern im Westen und im Osten erkennen könne. "Wir dürfen aber nicht vergessen, dass maximal ein Drittel der Ostdeutschen die AfD wählt", so Gauck. Er gehe davon aus, dass sich das Wahlverhalten in den alten und neuen Bundesländern in 20 bis 25 Jahren angeglichen habe.

Viele interessierte Zuhörer in der Bad Hersfelder Stadtkirche.

"Unser Land scheint auch nach 34 Jahren der Wiedervereinigung immer noch gespalten zu sein", sagte Roth. Diese Distanz sei existent und unter anderem durch eine andere politische Kultur im Osten begründet. "Wer Jahrzehnte in einer Diktatur gelebt hat, entwickelt eine andere Lebensweise", sagte Gauck. Das Motto in der DDR beschrieb er mit "Sei gehorsam, passe dich an, und es wird dir gutgehen". Eine Diktatur habe ein Defizit bei der Ausbildung einer Zivilgesellschaft und viele ehemalige DDR-Bürger hätten ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. 

"Führungskräfte sollten führungsstark sein"

Diese Orientierungslosigkeit, verbunden mit dem Fakt, dass viele "intelligente, junge Menschen in den Westen gegangen sind", trage dazu bei, dass die Zahl der AfD-Wähler in den neuen Bundesländern so hoch sei. "Aber wir werden keine solche Regierung haben. Heute gibt es genug Demokraten. In der Weimarer Republik gab es zu wenige Demokraten, um den Nationalsozialismus verhindern zu können". Er stellt aber auch klar: "Es ist objektiv falsch, dass alle AfD-Wähler Nazis sind." Gauck wies auch darauf hin, dass in vielen europäischen Nachbarländern rechtsgerichtete Parteien auf dem Vormarsch seien. Es sei die Aufgabe der etablierten Parteien, sich abzugrenzen. "Wir brauchen eine erkennbare Tatkraft in der Regierung. Führungskräfte in der Politik sollten führungsstark sein", sagte Gauck.

Gespräche auch schon vor Beginn der Talkrunde - hier mit Dr. Robert Brandau. ...

Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses konnte Michael Roth am Thema Ukraine-Krieg nicht vorbei. "Was ist da grundsätzlich schiefgegangen?", fragte Roth seinen Gesprächsgast. "Deutsche Politiker möchten nicht gerne etwas mit 'dem Bösen' zu tun haben. Wir sind durch die eigene Geschichte gehemmt, die Schuld anderer offen zu benennen", so Gaucks Antwort. Lösungsansätze für den Krieg auf europäischem Boden fanden sich aber beim "Kaffeeklatsch" in der Bad Hersfelder Stadtkirche auch nicht.

Nach rund zwei Stunden, in denen Gauck sehr intelligente und tiefgehende, aber auch sehr ausführliche Antworten gab, verabschiedete das Publikum den prominenten Gast mit viel Applaus. (Christopher Göbel) +++


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