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Fallzahlen durch soziale Medien gestiegen: "Missbrauch fängt mit Berührung an"
16.11.23 - Von 2017 bis 2022 haben sich die Fallzahlen im Bereich sexuelle Selbstbestimmung verdreifacht, in sozialen Medien werden Kinder nicht zuletzt durch Gleichaltrige genötigt und belästigt. Um das Selbstbewusstsein von Schülerinnen und Schülern zu stärken, gibt es zudem seit 2014 das interaktive Theaterstück "Trau dich!", das über Kinderrechte informiert - auch der eigenen Oma gegenüber.
Schauspieler des Schultheater-Studios Frankfurt spielen auf der Bühne der Orangerie Fulda Pubertäts-Szenarien durch: der erste Kuss, die erste Freundin - im Publikum hunderte Fünft- und Sechstklässler aus Schulen des Landkreises, die prusten und tuscheln. Da kommt die schlabbernde Oma, die ihren Enkel umarmt - iih! "Je stärker die Kinder durch Prävention werden, desto schwerer haben es die Täter. Die Übergriffigkeiten sind gerade in der Familie besonders häufig: 70 bis 80 Prozent der Kinder haben den Täter im erweiterten Bekanntenkreis der Familie", erklärt Anja Roßmann vom Kinderschutzbund Fulda.
Alle zwei Jahre kommt "Trau dich!" nach Fulda, bisher konnten rund 100 Schulklassen mit rund 1.900 Schülerinnen und Schülern erreicht werden, in diesem Jahr werden rund 600 Schülerinnen und Schüler aus 29 Klassen hinzukommen. Damit die Lektionen des Theaterstücks nicht verpuffen, ist "Trau dich!" eingebettet in eine Lehrkräftefortbildung, die auch rechtliche Handlungssicherheit für die Pädagogen vermittelt. Neben sexuellem Missbrauch ist vor allem die Belästigung durch digitale Inhalte relevant: "Die Fallzahlen sind durch die sozialen Medien in den letzten Jahren stark gestiegen - geteilt wird durch Gleichaltrige inzwischen alles, bis hin zur Kinderpornografie. Wenn Lehrer deswegen angesprochen werden, müssen sie die Meldewege kennen, um sich nicht selbst strafbar zu machen - dafür haben wir einen eigenen Handlungsleitfaden entwickelt", erklärt Gerrit Baier, Leiter der regionalen Geschäftsstelle des Netzwerks gegen Gewalt im Polizeipräsidium Osthessen.
Selbstbestimmung über den eigenen Körper
Spielerisch werden auf der Bühne der Orangerie Selbstbestimmung über den Körper und Vertrauen in die eigenen Gefühle normalisiert. Schulen müssen inzwischen Beratungslehrkräfte für Gewaltprävention schulen, außerdem Schutzkonzepte in Sachen sexualisierte Gewalt und Gewaltprävention entwickeln. Während die Fünft- und Sechtsklässler "Trau dich!" geboten bekommen, konnten regionale Grundschüler jahrelang von Puppenspieler Andreas Wahlers Programm "Ich will das nicht!" profitieren. Das wurde inzwischen eingestellt, für ein neues Programm mit dem Namen "Mein Körper gehört mir!" ist das Netzwerk aus Schulamt, Polizeipräsidium Osthessen, pro familia Fulda, SKF Fulda und Kinderschutzbund Fulda noch auf der Suche nach Finanzpartnern.
Die Schule soll zum Kompetenzort werden, an dem die Kinder lernen, ganz klar "Nein!" zu sagen zu Grenzverletzungen. In Elternabenden wird die Thematik ebenso nahegebracht wie bei Projekten mit Grundschulkindern, wo bereits auf Probleme bei der Handynutzung eingegangen wird. "Sexuelle Gewalt fängt nicht erst mit der Vergewaltigung an, sondern häufig mit ungewollten Berührungen. Unser Ziel ist es, klarzumachen, wo Grenzverletzungen anfangen", erklärt Alexandrina Prodan vom Sozialdienst katholischer Frauen Fulda. (mau) +++